Sonntag, 10. November 2013

Unsichtbare Schreie Teil 4

"Guten Morgen Konsi." Ich trat an ihn heran.
"Oh, guten Morgen Stefan. Was ist los, hast du auch verpennt."
"Nein. Aber schön wär's. Dann wäre ich nicht umsonst aufgestanden."
"Ist es denn schlimm, wenn du um 6 Uhr aufsteht, damit du um 8 in der Chemievorlesung sitzen kannst?" Er grinste mich an. "Ne im Ernst, ich schlaf auch lieber aus. Also, warum bist du umsonst aufgestanden?"
"Erzähl ich dir später an der Uni."
"Warum? Willst du schweigen bis die U-Bahn kommt?"
"Nicht wirklich, aber das muss nicht jeder hören, sonst versteht es noch jemand falsch."
"Komm schon, wir sind in Bochum. Wer hört dir hier zu?"
Ich zögerte. "Okay. Also, ich bin ganz normal früh aufgestanden. Habe den Bus genommen, den ich sonst auch nehme und erwische entsprechend auch den Zug, der mich überpünktlich in Bochum absetzt. Aber es kam, wie so häufig der Fall ist, zu einem Zwischenfall kurz vor Essen Hbf."
"Baum auf dem Gleis? Bombenentschärfung?", fragte Konsi.
"Nein, schlimmer. Selbstmörder."
"Oh, schon wieder?"
"Ja. Ich mein, wenn die unbedingt ihr Leben beenden wollen, von mir aus. Aber sollen sie sich doch irgendwo aufhängen. Dort, wo sie keinen anderen belästigen. Aber nein, er stellt sich ausgerechnet auf die Gleise, wenn mein Zug gerade vorbeifahren will."
"Kann ich verstehen, dass dich das nervt. Konnte der Typ rechtzeitig von den Gleisen geholt werden, bevor er überfahren wird?"
"Keine Ahnung. Der Zug hat jedenfalls über eine halbe Stunde gehalten, also denke ich schon, dass er runtergezerrt wurde. Ich hätte es auch eigenhändig gemacht, wenn man mich gefragt hätte.
Naja, es ist einfach schlimm, wenn du um 6 aufstehst, um dann eine Durchsage zu hören, dass du zu spät kommen wirst, weil du gefühlte 3 Stunden in einem stehenden überfüllten Zug sitzen musst."
"Wenigstens bist du jetzt hier. Ist ja auch egal, ob wir 15 Minuten zu spät sind. Juckt die Dozenten eh nicht."

Nach 3 Minuten fuhr die U-Bahn vor und wir stiegen ein. Wie üblich war sie überfüllt, so dass wir im Eingangsbereich stehen bleiben mussten.
"Also vorhin im ICE hat es mir besser gefallen.", sagte Konsi, während er sich im Wagon erfolglos nach einen freien Sitzplatz umschaute.
"Wieso ICE?", fragte ich.
"Bin doch leider etwas zu spät aufgestanden. Entsprechend war mein Zug weg, als ich am Bahnhof ankam. Auf der Anzeige stand aber immer noch, dass der nächste Zug der Regionalexpress ist. Also bin ich auch in den nächsten Zug eingestiegen. War aber anscheinend ein ICE."
"Ist ja auch nicht so, dass sich die Dinger von den normalen Zügen unterscheiden."
"Nein.", lachte er, "Dachte wenn die Bahn mal wieder einen kaputten Zug hat, lässt sie auch einen ICE auf einer Regionalstrecke fahren. Im Nachhinein betrachtet schon ein wenig blöd von mir. Aber sehr bequeme Sitze."
Nun lachte auch ich. "Und wie viel Strafe musst du bezahlen?"
"Das ist das Beste: Garnichts!"
"Hä? Haben die keine Kontrolleure?"
"Doch aber er hat mich eiskalt übersehen."
"Super, überhaupt nicht unfair. Ich darf auf wegen eines missglückten Selbstmörders warten, und du darfst umsonst ICE fahren."
"Und länger schlafen.", fügte er mit einem Grinsen hinzu. "Aber keine Sorge. Irgendwann gleicht sich das Leben wieder aus."

5 Stationen später machte der Fahrer der U-Bahn eine Durchsage:
"Sehr geehrte Fahrgäste. Wegen eines defekten Triebwagens vor uns müssen wir die Fahrt leider wir wenige Minuten unterbrechen. Vielen Dank für ihr Verständnis."
"Nein...", stöhnte ich und schüttelte den Kopf.
"Nicht verzweifeln,", sagte Konsi, "es geht doch gleich weiter."
"Schön wär's. Eine Station vor der Uni nochmal zu warten, muss wirklich nicht sein."
Ich schaute mich im Wagon um und sah ähnliche Reaktionen. Studenten, die ungeduldig auf die Uhr oder aus dem Fenster schauten. Beschwerden über die Unzuverlässigkeit von Bus und Bahn. Aber auch gleichgültige Reaktionen. Menschen mit zu lauten Kopfhörern, aus denen Avici und Aloe Blacc drangen. Eine Frau, die verzweifelt versuchte ihr Baby ruhigzustellen. Andere, die ungestört von Musik und Geschrei eine Zeitung lasen.
Zur Zufriedenheit der meisten Fahrgäste setzte die Bahn wie versprochen ihre Fahrt nach wenigen Minuten fort, so dass sie zwei Minuten darauf die Universität erreichte.

Als wir im Hörsaal für Chemie ankamen, war die Vorlesung zur Hälfte vorbei. Zu unserer Überraschung schienen recht wenige die Überwindung gehabt zu haben, früh aufzustehen. Gerade mal 30 Leute saßen, meist in den hinteren Reihen, um dort, so schien es, ein wenig Schlaf nachzuholen.
Wir gingen in die Mitte des Hörsaals, wo Timo und Pascal saßen, ohne dass Herr Gemel uns, oder die Schläfer der letzten Reihe, beachtete.
"Guten Morgen.", sagte Timo, "Wo wart ihr?"
"Erzählen wir euch später.", antwortete ich, "War irgendwas wichtiges?"
"Nein, nur Wiederholung von den Quantenzahlen. Was wir letztes Mal schon angefangen hatten.", sagte Pascal.
Dabei blieb es auch. Die nächsten 10 Minuten genau das, was am Tag zuvor besprochen wurde, sowie vor 2 Jahren in der Schule, nur nochmal vertieft. Ich konnte den nicht anwesenden keinen Vorwurf machen. Jede Minute die verging, entfernte ich mich in meinen Gedanken weiter von diesem Hörsaal. Wünschte mir, dass mein Wecker nie geklingelt hätte, und überlegte, ob man die beiden Freistunden, die auf diese Einzelstunde folgten, zum Schlafen nutzen könnte.
Dann riss das Klingeln eines Handys mich und fast alle anderen aus den Tagträumen. Reflexartig griff ich in die Hosentasche, um das Handy auszumachen. Andere taten es mir gleich. Doch Herr Gemel machte kein Geheimnis daraus, dass es sein Klingelton war, und nahm den Anruf an.
Gemurmel und leises Lachen kam auf im Hörsaal. Ich konnte Gesprächsfetzen wie "Das habe ich aber noch nie gesehen." oder "Ob er auch so reagiert, wenn wir telefonieren?" aufschnappen. Nach einigen Sekunden unterbrach Herr Gemel das Gemurmel und teilte mit, dass er den Saal kurz verlassen müsse. Er stieg die Treppen herauf und verschwand, ließ Laptop und Notizen zurück, um zu zeigen, dass auch wir bleiben sollen.
Wir nutzten die Gelegenheit, um Pascal und Timo über die Ereignisse des Morgens zu informieren und ernteten Gelächter, sowie Mitleid und Glückwünsche zum erfolgreichen Schwarzfahren.
Währenddessen leerte sich der Hörsaal weiter. Herr Gemel blieb weg.
10 Minuten vor dem regulären Schluss der Vorlesung, wir vier waren mittlerweile als Einzige übrig, entschieden auch wir zu gehen. Wir packten alle unsere Sachen ein und gingen hoch zur Tür.
"Können wir seine Sachen hier alleine lassen?", fragte Timo und deutete auf den Laptop unten an der Tafel.
"Denke schon.", antwortete Konsi, "Alle Hörsäle sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Hier klaut niemand. Und wenn doch, wäre er schön blöd."
Pascal erreichte als erster die Tür, drückte die Klinke runter. Aber die Tür bewegte sich nicht.
"Drücken.", sagte ich.
"Mach ich doch.", antwortete Pascal, "Aber sie bewegt sich nicht.
"Gib mal her." Konsi nahm die Klinke, aber auch er scheiterte. "Verdammte Scheiße, hat jemand die Tür versperrt? Mal die andere Tür versuchen."
Auf dem Weg zur anderen Seite des Hörsaals gingen die Lichter aus. Auch der Beamer stellte seinen Betrieb ein. In dem fensterlosen Raum war der Laptop die einzige Lichtquelle. Diese hatte kaum Auswirkung auf unsere Seite, die andere Seite des Raumes, also holten wir unsere Smartphones heraus.
"Wieso ist jetzt der Strom weg?", fragte Pascal.
"Vielleicht die Sicherung.", antwortete Konsi, "Kann sein, dass die im Nebenraum einen Kurzschluss..."
Er wurde von einem lauten Schrei unterbrochen, der von der anderen Seite der Tür hinter uns kam. Deutlich hörbar, die Stimme eines Mädchens, das in Todesangst schreit.
Wir rannten zur anderen Tür, wollten nachsehen, dem Kind helfen. Bevor wir die Tür erreichen konnten, fiel Pascal vornherüber, riss beinahe Konsi mit und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. An seinem Hals sahen wir etwas rot glühendes Hängen. Erst nach Sekunden, in denen wir dachten, er steht sofort wieder auf, realisierten wir, was dies für ein Objekt war: Eine Gabel, eine glühende Gabel.
Der Geruch nach verbrannter Haut war wahrzunehmen und anstelle des Schreis hörten wir nun das Geräusch von Fleisch auf dem Grill. Nur war es kein Steak, es war Pascal. Sein Fleisch, sein Knochenmark.
Wir versuchten noch die Gabel zu entfernen. Um uns nicht zu verbrennen, fassten wir sie nur mit unseren Schuhen an. Aber als es uns nach bangen Sekunden gelang, war es zu spät. Pascal war tot, seine Wirbelsäule durchtrennt von einer Gabel wie Lava. Aus dem Loch in seinem Hals floss kein Blut. Auch sonst sah sein Körper, obwohl er vor weniger als einer Minute noch normal war, aus wie eine Figur von Madame Tussaud's. Ich versuchte noch den Notarzt zu rufen, doch im Hörsaal war kein Empfang.
Der Schock über dieses plötzliche Ereignis saß so tief, dass wir uns nicht von der Stelle rührten. Die Frage nach dem Wie und Warum interessierte nicht. Wir standen nur da, und schauten auf den toten Körper auf dem Boden, bis uns ein weiterer Schrei aufweckte. Dieser kam diesmal von unten. Aus dem Vorbereitungsraum, zu dem eine Tür am unteren Ende des Hörsaals führt. Es war kein Schrei eines Mädchens, es war die Stimme von Pascal. Unmöglich, wir konnten unseren toten Freund vor uns liegen sehen. Dennoch rannte Timo die Treppen herunter, rief seinen Namen und rüttelte an der Tür. Sie öffnete sich nicht.
"Nein Timo, er ist es nicht. Komm hoch, wir müssen hier raus.", rief Konsi. Obwohl seine Stimme nicht wirklich überzeugend war, schien er eine Gefahr erkannt zu haben. Der Stromausfall, der Schrei, der plötzliche Tod von Pascal durch eine glühende Gabel. Dinge, die sich nicht erklären lassen. Ein weiterer Schrei. Innerhalb von Minuten wandelte sich die Welt.
Timo reagierte nicht auf die Rufe, er rüttelte weiter an der Tür. Der Schrei war inzwischen verstummt. Sekunden vergingen, in denen Konsi und ich versuchten, Ordnung in das Geschehen zu bringen. Doch dann gelang es Timo, die Tür zu öffnen und es schien für einen Moment so, als würden wir aus einen Alptraum erwachen. Timo betrat den Raum, wir anderen rannten hinunter zu ihm, zum möglichen Ausgang. Bevor wir den letzten Treppenansatz erreichen konnten, trat Timo wieder in den Hörsaal. Rückwärts, einen Schritt, noch einen. Dann fiel er um, wie Pascal Augenblicke zuvor. Ein letztes leises Stöhnen und dann Stille. Wir blieben auf der Treppe, Meter von ihm entfernt, stehen und sahen im schwachen Licht des Notebooks, wie der Kopf von Timo in einem unnatürlichen Winkel vom Körper weg zeigte, durchbohrt von einem länglichen Gegenstand, der an beiden Seiten mehrere Zentimeter aus dem Schädel ragte.
Jetzt realisierten wir und reagierten so schnell wir konnten. Konsi schloss die Tür zum Vorbereitungsraum, als ein weiterer Schrei, diesmal wieder ein Mädchen, aus dem Nebenraum drang, und versperrte sie mit einem Besenstiel so gut er konnte. Daraufhin rannten wir auf die andere Seite des Raumes, zur anderen Treppe, die zum letzten potentiellen Ausweg führte. Konsi war schneller, überholte mich, als ich die erste Treppe erreichte und stürmte vorbei. Ich versuchte dran zu bleiben, doch stolperte in der Dunkelheit und stieß mir dem Kopf an der Kante. Für einem Moment blieb ich benommen liegen. Bis ein weiter Schrei ertönte. Vor mir. Leiser. Konsi. Ich hörte ihn stürzen, ein paar Treppen herunterrutschen, und dann stumm liegen bleiben.
Es war kein Blick nötig, um zu erkennen. Es war vorbei. Auch für mich. Irgendetwas ist hier, es hat drei Menschen getötet und ich bin der Nächste. Zu rennen ist sinnlos, alle Auswege sind versperrt. Ich blieb auf der Treppe liegen, schloss meine Augen, während Blut aus der Wunde an meinen Kopf tropfte, und wartete auf einen hoffentlich schnellen und schmerzlosen Tod. Einen Schrei, der ihn ankündigt, der die letzten Sekunden zur Hölle werden lässt. Ich wartete, kein Schrei. Trügerische Ruhe. Dann waren Schritte zu hören, die von oben kamen, von der Eingangstür. Meinen baldigen Mörder trennten noch 15, vielleicht 20 Schritte von deinem nächsten Opfer. Er blieb kurz stehen, schaute sich noch mal um. Wahrscheinlich um sich das Bild einzuprägen, wie ich wehrlos da liege.
Er betrat die Treppe, einen Schritt, noch einen, langsam stieg er herab.
Die Sekunden vor dem Ende schwirrten mir die Geschehnisse des Morgens durch den Kopf.
Hätte der Wecker nicht geklingelt, wäre ich nicht hier, würde ich zuhause im Bett liegen, oder schon am Frühstückstisch sitzen.
(Schritte)
Der Selbstmörder auf den Gleisen würde mir morgen oder übermorgen in der Zeitung begegnen. Der wartende Zug wäre leerer gewesen.
(Schnelle Schritte)
Das ist die Essenz, wegen der man lebt. Die einfachen Dinge genießen. Hin und wieder ausschlafen können, Stressfrei durch den Pendelverkehr kommen, ohne Unterbrechungen.
(Noch schnellere Schritte)
Wake me up when it's all over... Es ist vorbei. Es gibt kein Aufwachen mehr. Kein Ausschlafen, nur Schlaf, für immer.
(Ein letzter Schritt)
Nun stand er direkt vor mir. Ich spürte seinen Fuß an meinem Kopf und rechnete nun mit einem Schmerz. Doch das nächste, was meine betäubten Sinne wahrnahmen, war eine Stimme.
"Stefan, alles in Ordnung? Was ist passiert, bist du verletzt?"
Das kann nicht sein, dachte ich.
Er bückte sich und klopfte mir auf die Schulter.
"Was ist los? Komm, steh auf!"
Obwohl ich meinen Ohren nicht traute, hob ich meinen Kopf und schaute der Person ins Gesicht, zu der auch die Stimme passte: Herr Gemel.
Ich brachte keinen Ton heraus. Wo kam er her? Wieso ist das Licht wieder an? Um mich umzusehen, richtete ich mich in eine bequemere Position auf und schaute, auf den Knien hockend, hinter Herr Gemel und sag zu meiner Überraschung keine Leichte von Konsi. Auch die Wunde an meinem Kopf war verschwunden.
"Du scheinst ja unverletzt zu sein, obwohl du ziemlich blass bist", sagte Herr Gemel, "aber wieso liegst du hier rum?"
"Wo sind die anderen?", fragte ich, ohne auf seine Frage zu reagieren.
"Sag du es mir. Wahrscheinlich sind gegangen, als ich nicht zurückkam."
Ich stand auf und schaute mich um. Auch die Leichen von Timo und Pascal sind verschwunden. Der Besen steht in der normalen Ecke und nirgendwo ist eine Gabel zu sehen.
Meine Beine zitterten, also setzte ich mich auf den nächsten Sitz.
"Wo waren Sie die ganze Zeit?", fragte ich.
"An meinem Auto, jemand ist mir hinten rein gefahren." Ich reagierte nicht. "Geht es dir wirklich gut?"

Was passierte, warum ich auf der Treppe lag, verschwieg ich, und schob mein krankes Aussehen auf eine Grippe. Herr Gemel begleitete mich nach draußen. Vor dem Hörsaal ging alles seinen gewohnten Gang. Niemand schien etwas gesehen oder gehört zu haben. Alles war normal.
Wir gingen zusammen bis zum U-Bahnhof, redeten kaum miteinander, warum auch? Nur als er vor dem Hörsaalgebäude über eine kleine Säge stolperte und sich beschwerte, dass sowas hier nichts zu suchen habe, schaute ich ihn kurz an. Als die U-Bahn kam, verabschiedeten wir uns und er wünschte mir gute Besserung. Ansonsten blieb ich in meinen Gedanken versunken.
Über das, was ich erlebte, verlor ich nie mehr ein Wort. Konsi, Timo und Pascal tauchten nie wieder auf. Sie waren verschwunden.