Donnerstag, 29. November 2012

Tür zum Dachboden

Sie stieg die Treppe hinauf. Die Treppe, die sie sonst nicht hinauf stieg. Sie führte zu dem Ort, den sie in den letzten Jahren gemieden hat wie eine Regenwolke die Sahara. Es war der Ort, an dem vor vielen Jahren ihr Vater unter bislang ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Damals war sie gerade mal acht Jahre alt.
Sie hat die Meldung von Tod ihres geliebten Vaters in der Schule bekommen. Es war die dritte Stunde Mathe, sie weiß es noch genau. Sie saß gerade an einer Rechenaufgabe als sie per Durchsage die Mitteilung erhalten hat, Anja möge bitte zum Büro des Schulleiters gehen. Natürlich folgte darauf eine Salve von fragenden und spöttischen Blicken ihrer Klassenkameraden, die sich fragten, was passiert sei. Anja selbst wusste es auch nicht. Als sie das Büro erreichte fand sie dort ihre 15-jährige Schwester vor, in Tränen aufgelöst, von ihrem ehemaligen Schulleiter gestützt.
Dieses Bild, wie ihre Schwester die schrecklichen Worte aussprach, hat Anja in den folgenden Jahren immer wieder im Traum verfolgt.
Am selben Nachmittag erfuhr sie von der Mutter, dass diese den Vater leblos auf dem Dachboden gefunden hat. Mit gebrochenem Genick.
Offiziell ist er im Dunkeln gestolpert und unglücklich aufgekommen, aber es bestanden immer Zweifel an der Todesursache.
Seit dem hat Anja den Dachboden nicht mehr betreten. Zu sehr schmerzte der Gedanke, an dem Ort zu sein, wo der erste Mann den sie liebte umgekommen ist.

Doch nun hatte sie keine andere Wahl mehr. Sie war mittlerweile 22 Jahre alt und verlobt. Sie ist eigentlich schon lange von zuhause ausgezogen, aber nun muss sie zurück in ihr Elternhaus, da ihre Mutter nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Anjas Schwester lebt und arbeitet mittlerweile in Amerika, hat also keine Möglichkeit die Mutter zu pflegen.

Anja stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Dachboden. Ihr verlobter Mike direkt hinter ihr. Oben war es stockfinster. Die Fenster waren seit dem Tag des Unfalls verdunkelt, eine Tat ihrer Mutter. Anja tastete nach dem Lichtschalter, doch die Glühbirne war schon lange durchgebrannt.
„Hier.“, sagte Mike und reichte ihr eine Taschenlampe.
Sie schaltete sie ein und leuchtete durch den Raum. Es sah genau so aus wie in ihren Erinnerungen aus glücklichen Kindertagen. An den Wänden rechts und links stapelten sich Kisten, gefüllt mir allerlei Dekorationsgegenständen, Büchern und alten Spielsachen. Auf dem Boden lag noch mehr desgleichen, dazu noch eine dicke Staubschicht und jede Menge undefinierbarer Kleinteile. Wer hier im Dunkeln herumgeht, wird schnell den Boden küssen.
Zum Glück hatte sie eine Taschenlampe.
Sie ging durch den Raum, schaute in Kartons, drehte mit ihrem Fuß Gegenstände auf dem Boden um. Mike tat es ihr auf der anderen Seite des Raumes gleich. Anja wusste genau wonach sie suchte. Sie hat noch deutlich das Bild im Kopf. Es war ein Kerzenständer, den ihre Eltern vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt erstanden haben. Von einem Bekannten und Kunstsammler wurde ihnen ein Foto eben jenes Gegenstandes gezeigt, den er suchte und der mehrere Tausend Euro wert war. Anja hat ihn sofort erkannt. Sie selbst hat kein Einkommen, ebenso wie Mike studiert sie. Sie leben von einem Nebenjob von Mike in einem Lebensmittelladen und von der Rente der Mutter. Daher durften sie sich die Chance auf diese Zusatzeinnahmen nicht entgehen lassen.

Sie streifen mehrere Minuten lang durch den Raum und schauten in jede Kiste.
„Er muss doch irgendwo hier sein, da bin ich mir sicher.“, sagte Anja immer wieder. Und immer wieder folgte ein zustimmendes Nicken von Mike.
Nach fast einer halben Stunde sagte dieser schließlich:
„Wir haben jetzt überall geguckt, er ist nicht hier. Lass uns verschwinden, dieser Ort macht dich unglücklich.“ Er legte seine Hand auf ihre Schulter in der Hoffnung sie zur Rückkehr bewegen zu können, doch sie hatte mittlerweile andere Pläne. Ihr Blick war auf ein Buch fixiert, dessen goldener Einband aus einer bereits von Mike durchsuchten Kiste herausragte.
„Was ist das? Das kenne ich nicht.“, sagte sie.
Sie schaute auf das Cover, wo sie aber nur Schriftzeichen einer ihr unbekannten Sprache entdecken konnte. Mike nahm es ihr aus der Hand und sah es sich an. Er versuchte es zu öffnen, doch die einzelnen Seiten waren wie aneinander geleimt.
„Hilf mir es zu öffnen.“, sagte er zu Anja. Sofort nahm sie eine Karte aus einem Kartenspiel vom Boden und steckte sie zwischen die Seiten, in der Hoffnung der Kleber würde sich lösen.
„Funktioniert nicht.“, sagte Mike. „Wir müssen was anderes versuchen.“
Wie im Bann nahm er einen auf dem Boden liegenden Löffel und versuchte das Buch aufzuhebeln. Anja starrte dabei die ganze Zeit auf das Buch, als würde sie einen lupenreinen Diamanten vor sich haben.
Nach einer Minute des Drückens flogen die Seiten des Buches auseinander. Mike, mittlerweile vor Anstrengung keuchend, fiel dabei auf den Boden, stand aber sofort wieder auf als Anja das Buch aufhob und auf die Seiten starrte.
Alle Seiten des Buches waren leer. Stattdessen fing das Buch an in einem blassen Grünton zu leuchten. Das Leuchten wurde stärker, als Anja mit der Hand die aufgeschlagene Seite streichelte.
Als Mike seine Hand auch auf die Seite lag, ließ ein heftiger Windstoß die Dachbodentür zufallen, die Taschenlampe erlosch. Das Licht des Buches erfüllte den ganzen Raum. Mike und Anja erwachten aus ihrer Trance, ließen das Buch fallen und wichen mehrere Schritte zurück. Erst jetzt erkannten sie, was sie die letzten Minuten machten. Beide rannten zur Tür, hämmerten dagegen, wollten sie öffnen, doch sie bewegte sich kein Stück. Wie fest geleimt. Anja rannte panisch zum Fenster, wollte es öffnen, aber auch dieses bewegte sich nicht. Mike versuchte es einzuschlagen, vergebens.
„Was geht hier vor?“, kreischte Anja.
Angsterfüllt griff Mike zu einem herumliegenden Stück Holz und schlug damit auf das Buch ein, und wieder und wieder und wieder. Nach dem siebten Schlag gab er auf, das Buch war unversehrt. Stattdessen fing das Holz an plötzlich auf den Kopf von Mike einzuschlagen. Einmal, zweimal, dreimal,.... Mike stöhnte bei jedem Schlag vor Schmerz, jeder Schlag war heftiger als der vorherige, nach jedem Schlag stöhnte er lauter. Er versuchte das Holz abzuwehren, doch keine Chance, er hatte seine Arme nicht unter Kontrolle und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ebenso Anja. Sie konnte sich nicht bewegen und musste schreiend und mit Tränen in den Augen zusehen, wie Mike nach dem siebten Schlag bluten auf dem Boden zusammenbrach und kein Geräusch mehr von sich gab. Das Stück Holz, dass sein Schicksal besiegelte, fiel auf den Boden und blieb dort liegen.
Anja schluchzte und wollte zum regungslosen Körper ihres Verlobten stürmen, als sie plötzlich von einem heran fliegenden Kerzenständer am Kopf getroffen wurde. Ein Knacken der Knochen und sie blieb regungslos neben ihrem Verlobten am Boden liegen.
Das Licht des Buches erlosch, es schloss sich, die Taschenlampe fing an zu leuchten und ein leichter Windzug öffnete die Tür zum Dachboden.

Montag, 26. November 2012

Scheidung

Hendrik

„Hast du schon wieder Dreck in die Wohnung geschleppt? Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass du deine Schuhe draußen ausziehen sollst, wenn es regnet!
Hallo? Hörst du mir überhaupt zu? ICH REDE MIT DIR!“

War mir egal. Diese Sprüche musste ich mir schon seit Wochen anhören. Nur dass es immer unterschiedliche Gründe für das Geschrei gab.
Wir haben uns vor drei Wochen getrennt, nachdem wir sieben Jahre verheiratet waren. Die Scheidung ist schon eingereicht, aber dieser Papierkram dauert halt ein wenig. Im Grunde bin ich sehr froh darüber, dass nun endlich Schluss ist. Die letzten anderthalb Jahre waren für die Katz. Wir liebten uns nicht mehr, dass wussten wir beide. Wir lebten nur noch zusammen, weil wir die Gesellschaft des anderen schätzten. Wir hatten nicht den Mut uns einzugestehen, dass die Liebe verblasst ist. Zudem hatte ich nicht das Geld, um mir eine eigene Wohnung zu kaufen. Schließlich hatten wir das Haus erst vor ein paar Jahren gekauft, und es war noch lange nicht abbezahlt. Leider läuft es auf ihren Namen, da sie als Oberärztin in der Uni-Klinik mehr verdient als ich.
Damals bin ich extra aus der Eifel nach Berlin gezogen, weil Sarahs Eltern hier wohnten. Ihre Mutter saß im Rollstuhl und ihr Vater konnte sie nicht alleine Pflegen. Sarahs Schwester wohnt in Kalifornien. Daher ist Sarah die einzige, die sich um ihre Mutter kümmern konnte.
Zum Glück muss ich diesen Besen nie wieder sehen. Sie ist das typische „Schwiegermonster“-Klischee.
Damals, als wir uns liebten, war das alles kein Problem für mich. Ich ließ Freunde und Verwandte im Stich und ging mit nach Berlin. Außer meiner Ex und ihre Familie kannte ich niemanden. Zum Glück fand ich schnell einen Job bei der Sparkasse. Auch wenn ich meinen alten Job in der Uni vermisse.
Aber bald bin ich ja wieder zuhause. Nur noch ein paar Tage in der Drachenhöhle und dann geht es zurück in die Eifel. Meinen Job habe ich schon gekündigt, heute war mein letzter Arbeitstag. Nachher fahre ich rüber, werde die Nacht bei meinem Bruder verbringen und mir am nächsten Tag die neue Wohnung ansehen. Ein guter Freund von damals fährt mich, da „mein“ altes Auto leider auch ihr gehört. Dass die Liebe einen so blind macht....

Ich ging an Sarah vorbei, direkt nach oben ins Gästezimmer, wo seit unserer Trennung mein Schlafzimmer war. Alles, was ich im Laufe der Jahre gekauft habe, und all das, was Sarah nicht mag, liegt jetzt dort herum und macht es mir reichlich schwer ins Bett, bzw. in den Schlafsack zu gehen. Einmal bin ich nachts auf einen Bilderrahmen getreten, der auf dem Boden lag. Danach hatte ich eine blutende Wunde im Fuß.
Ich hab Sarah natürlich nicht darauf angesprochen, diesen Triumph gönne ich ihr nicht.
Als ich oben ankam, fing sie wieder an zu schreien:
„Hendrik, dein Bruder Janis hat angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass du ein Arsch bist!“
Ich verdrehte die Augen. Typisch Sarah!
„Sonst noch etwas?“, rief ich zurück.
„Nichts wichtiges, nur dass er ein Zimmer im Mühlenhof für dich gebucht hat, da in seiner Baracke riesige Ratten sind. Etwa so groß wie du.“
„Aha. Dann rufe ich gleich mal seine LIEBENSWERTE Lebensgefährtin an, und sag sie soll ihm gute Besserung wünschen.“
„Ratten“ war ihr Codewort für „Krank“. Da sie panische Angst vor kleinen Säugetieren hat und deshalb sogar mal ein Behandlung war, hat ihre Mutter sie immer geärgert, in dem sie, wenn sie krank war immer gesagt hat, dass sie eine Ratte hat. Diese Ausdrucksweise hat sie übernommen und bezeichnet jeden der Krank ist als „Ratte“.
Muss ich also im Hotel pennen. Was solls, überall ist es besser als hier. Der Mühlenhof war zwar früher nicht das Luxus-Hotel, aber für eine Nacht reicht es. Außerdem wird es jetzt im Spätherbst schön leer sein, so dass ich meine Ruhe hab.
Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte nochmals, ob ich für meinen „Kurzurlaub“ alles eingepackt hatte. Da mir nichts einfiel, was ich vergessen haben könnte, nahm ich den Koffer und einen Regenschirm, zog meine Jacke wieder an und ging wieder nach unten. Zwar würde Benny erst in zwei Stunden kommen, aber da ich nicht erwarten konnte von Sarah noch eine warme Mahlzeit zu bekommen, wollte ich mich nochmal bei meinem Lieblingsitaliener blicken lassen.
Als ich die Haustür öffnete kam Sarah mit einem Putzlappen in der Hand aus der Küche gestürmt und brüllte: „Wo willst du hin? Dein Typ kommt frühestens um Vier.“
„Ich hab Hunger. Das was du auf die Teller legst, kann man ja nicht mal essen, wenn man besoffen ist.“
„Musst du ja wissen“
„Jedenfalls gehe ich zu Antonio, 'ne Pizza auf den Schock.“
„Welcher Schock? Dass du im Hotel wohnen musst?“
„Ich meine eigentlich den Anblick deiner Visage, aber von mir aus.“
Sie lief rot an und warf ihren Putzlappen in meine Richtung. Aus Reflex wehrte ich den eigentlich harmlosen Lappen mit dem Regenschirm ab. Dabei stieß ich aus versehen eine Blumenvase um, die auf den Boden fiel und zerbrach. Ich merkte erst, dass dies das Erbstück von Sarahs Großmutter war, als sie mich voller Verachtung ansah.
Ohne nachzudenken rannte ich aus dem Haus Richtung Pizzeria ohne auf den Regen zu achten. Hinter mir hörte ich Sarah toben: „ICH VERFLUCHE DICH, HENDRIK SCHWEINEHIRN! Warte bis du wiederkommst, du ARSCH. Dann wirst du es BEREUEN!“

Als ich aus ihrem Blickwinkel raus war, verlangsamte ich meinen Schritt und spannte den Regenschirm auf. Das letzte Mal, als ich ein Erbstück von ihr zerbrochen habe, durfte ich eine Woche auf dem Sofa schlafen. Und damals haben wir uns noch geliebt. Ich wollte nicht wissen, was jetzt passieren würde.
Als ich so die Straßen entlang ging, dachte ich darüber nach, ob ich Berlin nicht vermissen werde. Der Park, in dem ich früher immer mit meinem Hund Lukas spazieren gegangen bin, bis er gestorben ist. Der Kiosk, wo ich mir jeden morgen die Zeitung gekauft habe und mir für die Wartezeit noch eben ein Rätselheft gekauft habe. Das Einkaufszentrum, wo mir Sarah immer mein Portemonnaie leergekauft hat, und natürlich, als ich dort ankam, die Pizzeria.
Ich ging hinein und Antonio begrüßte mich sofort.
„Hendrik! Wie schön dich noch einmal zu sehen! Wie geht es dir? Wie läuft es mit deiner Frau?“
„Hallo Antonio. Alles bestens. Sarah ist wie immer unausstehlich, aber mittlerweile weiß ich, wie ich sie ignorieren kann.“
„Das freut mich. Das Übliche?“
„Aber klar doch.“
„Sehr gut. Setz dich, dauert noch etwas.“
Er verschwand in der Küche. Ich zog meine Jacke aus, stellte den Schirm in den Schirmständer und setzte mich an einen Tisch.
Außer mir waren nur drei weitere Gäste im Restaurant. So war es schön ruhig, dass ich ohne Probleme die Sudokus lösen konnte.

Benny

Immer dieser Verkehr! Es war schon kurz nach 5 Uhr als ich endlich in Berlin ankam. Hendrik hatte mir vorher gesimst, wo er auf mich wartet, da es anscheinend wieder Krach zwischen ihm und Sarah gegeben hat. Zum Glück ist es endlich vorbei zwischen den beiden. Die paar Mal wo ich sie besucht habe, fand ich Sarah sehr unsympathisch. Ich weiß nicht warum, aber es gibt eben Menschen, die nicht miteinander klar kommen.
Als ich im Restaurant ankam, wo Hendrik auf mich wartete, wurde ich genervt, aber freundlich empfangen.
„Na endlich! Schön dass du da bist.“ Er stand auf und trat mit einen Lächeln an mich heran.
„Hallo. So, wir sollten los, du kannst nur bis 10 Uhr einchecken. Ansonsten musst du draußen schlafen. Du weißt, meine Frau hat gerade Läuse...“
„Ja, ich weiß, die Arme. Dann los, ich will ein Bett.“
Er ging zum Tisch zurück, suchte seine Sachen zusammen, nahm den Koffer und einen Regenschirm aus dem Ständer und wir gingen zur Tür. Dort blieb er nochmal kurz stehen:
„Ciao Antonio, ich komme nächste Woche nochmal auf einen Abschiedswein vorbei. Wir sehen uns.“

Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Auf den ersten Kilometern unterhielten wir uns ein wenig. Aber viel zu sagen hatten wir uns nicht. Ich wusste durch unsere regelmäßigen Skype-Telefonate, dass ihn die Situation mit Sarah sehr belastet. Und er wusste, dass es bei mir zuhause auch nicht perfekt war. Ich glaube er wusste auch, dass diese „Läuse“ nur erfunden waren, da meine Frau ihn nicht leiden kann. Ich war ihm aber sehr dankbar, dass er nicht näher auf das Thema einging.
Als wir dann Berlin verließen, sprachen wir gar nicht mehr. Ich musste mich auf das schnelle Fahren konzentrieren, und er war mit seinen Gedanken wahrscheinlich wieder bei Sarah. Er gestand es sich selbst zwar nicht ein, aber ich glaube er hat sie immer noch geliebt.

Jedenfalls musste ich ganz schön Gas geben. In weniger als 5 Stunden von Berlin in die Eifel ist nicht so einfach. Vor allem bei Regen. Auf der Hinfahrt bin ich schon an mehreren Unfällen mehr oder weniger gut vorbeigefahren. Hoffentlich passierte diesmal nichts.

Um Halb 10 passierte es dann: Wir waren gerade durch Köln durch als wir in einen Stau gerieten.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, schimpfte Hendrik. „Jetzt kommen wir ganz bestimmt nicht mehr rechtzeitig am Hotel an.“
„Vielleicht lassen die dich ja trotzdem rein.“, sagte ich aufmunternd.
„Können wir nur hoffen.“
Während wir im Stau standen und warteten, hörten wir nebenbei Radio. Dort machten sie auch eine Durchsage zum Unfall, der den Stau verursacht hat. Sie meinten, dass ein Fahrer einer großen, dunklen Gestalt ausweichen wollte, die plötzlich auf der Fahrbahn stand. Dabei ist er gegen die Leitplanke gefahren und liegen geblieben.
„Deswegen sollte man ab Steuer keine Drogen nehmen.“, sagte Hendrik. „Oder siehst du hier irgendwo eine dunkle Gestalt?“ Ich schaute aus den Fenstern. Im Licht der vielen Scheinwerfer war keine Gestalt zu erkennen. Nur die Regentropfen.
„Nein, da ist nichts. Aber vielleicht war der Mann auch einfach übermüdet.“

Eine halbe Stunde später hatten wir den Stau hinter uns gelassen. An der Unfallstelle sahen wir, wie der verängstigte Fahrer mit zwei Polizisten redete. Er schien sehr von seiner Erscheinung überzeugt gewesen zu sein.
Kurz zuvor rief Hendrik mit meinem Handy im Hotel an. Zwar musste er vorher die Auskunft anrufen, aber die 6 Euro hat er mir zurückgegeben. Im Hotel werden sie auf ihn warten, sagte die Frau an der Rezeption. Zum Glück. Sonst hätte er bei mir im Auto schlafen müssen.
Eine weitere halbe Stunde später fuhren wir über Landstraße durch einen Wald. Bis zum Hotel waren es nur noch wenige Kilometer. Hendrik war schon halb am schlafen, als ihn plötzlich ein dumpfes Geräusch weckte. Es hörte sich so an, als wäre jemand auf das Autodach gesprungen. Vor Schreck kam ich kurz von der Spur ab, aber glücklicherweise war die Straße leer.
„Ach du scheiße, was war das denn?“, fragte Hendrik erschrocken.
„Keine Ahnung.... Es kam vom Dach...“
In dem Moment hörten wir ein weiteres Geräusch. Es war als würde etwas den Lack auf dem Dach zerkratzen. Etwas war auf dem Auto.
„Was ist das?“, brüllte ich.
„Vielleicht ein Waschbär?“, sagte Hendrik ohne sich sicher zu sein.
Wir waren nervös. Wir hatten keine Ahnung was da war.
„Halt an, ich steig aus und schau nach was da ist.“, sagte Hendrik.
Ich hielt am Straßenrand und Hendrik löste seinen Gurt.
„Sei vorsichtig, du weißt nicht was das für ein Tier ist. Es könnte dich angreifen.“ In dem Moment hörte das Kratzen auf.
Wir tauschten nochmal einen Blick aus, dann öffnete er die Tür, stieg aus und schaute auf das Dach.
Sein nervöser Blick wich schnell einem erleichterten.
„Es ist weg. Komm raus, sieh dir das an.“
Auch ich stieg aus dem Auto und schaute aufs Dach. Dort waren sieben parallel verlaufende, mehrere Dezimeter lange Kratzer im Lack.
„Mein Auto... Was war es, und wo ist es jetzt?“
Wir schauten uns um, konnten aber kein Tier entdecken. Zu hören war auch nichts, außer dem Wind in den Bäumen und einem Auto in der Ferne.
„Unheimlich.“, sagte ich. „Lass uns lieber weiterfahren.“
Wir stiegen wieder ein und fuhren los.
Den Rest der Fahrt blieben wir ruhig und lauschten nach weiteren Geräuschen. Aber es passierte nichts mehr.
20 Minuten nach unserem Zwischenstopp kamen wir am Hotel an. Es lag ein wenig abseits unseres Heimatortes am Rand eines Waldes. Es war ein altes, zweistöckiges Gebäude, in dem früher eine Mühle war. Hinter dem Haus fließt ein kleiner Fluss. Dort hängt auch noch das alte Mühlrad. Im Erdgeschoss befindet sich heute ein Restaurant, im zweiten Stock mehrere Fremdenzimmer.
Ich hielt auf dem Parkplatz vor dem Hotel, wo noch drei andere Wagen standen.

Hendrik


„Dann mal Danke für die Fahrt hierhin.“, sagte ich.
„Kein Problem, wir sind doch Freunde.“, antwortete Benny und grinste mich an. Ich stieg aus und holte meinen Koffer aus dem Kofferraum.
„Ich hol dich dann Morgen so gegen 10 Uhr ab. Dann fahren wir zu der Wohnung.“
„In Ordnung. Gute Heimfahrt und grüß Annika von mir. Hoffentlich verschwinden die 'Tierchen' bald.“
„Ja, werde ich ihr ausrichten. Gute Nacht!“
„Gute Nacht“. Ich schloss den Kofferraum und Benny fuhr los, die Straße Richtung Dorf.
Ich ging mit meinem Koffer zur Eingangstür. Dort hinter brannte noch Licht, also war die Frau noch da.
Ich öffnete die Tür und ging hinein. Die Rezeption war nicht besetzt, scheinbar war die Frau im Hinterzimmer. Ich klingelte und wartete kurz.
Keiner kam.
Ich klingelte erneut.
Wieder nichts. Dann sah ich auf dem Tresen eine Nachricht liegen. Daneben ein Zimmerschlüssel. Ich las:

„Guten Abend Herr Kelleser,
Dies ist Ihr Zimmerschlüssel. Sie haben Zimmer 11. Frühstück ist morgen ab Halb 8. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.
Y. Hunter

Ich war ein wenig überrascht, dass sie mir den Zimmerschlüssel nicht persönlich überreicht hat, aber besser so als gar kein Zimmer. Ich nahm den Schlüssel und stieg die Treppe hinauf in die erste Etage. Oben angekommen stand auf einmal ein kleiner Junge vor mir.
„Huch!“ Ich ließ vor Schreck meinen Koffer fallen, der dann mit lautem Poltern die Treppe hinunterfiel.
Der Junge, vielleicht 8 Jahre alt trug einen schwarzen Anzug mit schwarzer Hose und weißer Krawatte. Alle Sachen schienen ihm viel zu groß zu sein und ließen ihn irgendwie unmenschlich wirken. Er starrte mich emotionslos mit seinen kleinen, olivgrünen Augen an.
„Was machst du denn so spät noch hier? Wo sind denn deine Eltern?“
Das Kind gab keine Antwort. Er starrte mich nur weiter mit seinem hypnotisierenden Blick an.
„In Ordnung. Ich geh nur eben meinen Koffer holen, dann suchen wir deine Eltern.“
Ich ging die Treppe hinunter, hob meinen Koffer aus und stieg wieder hoch. Oben angekommen war der Junge verschwunden. Ich schaute den Flur auf und ab, aber er war nicht mehr zu sehen. Ich dachte erst, dass er in eines der Zimmer gegangen ist, aber ich hörte keine der Türen öffnen oder schließen.
„Seltsam.“, sagte ich und suchte Zimmer 11.
Als ich es gefunden habe, ging ich sofort hinein, zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Ich schlief auch sofort ein.

Zwei Stunden später wurde ich geweckt, als jemand an meine Tür klopfte. Ich stieg im Halbschlaf aus dem Bett, ging zur Tür und fragte „Wer ist da?“
Keiner Antwortete, stattdessen klopfte es erneut. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und schaute hinaus. Es war wieder dieser Junge. Nur diesmal trug er anstatt seiner schwarzen Hose eine rote Schlafanzughose. Anzug und Krawatte trug er immer noch, allerdings wirkten sie nicht mehr so groß wie vorher.
„Woher.... Woher weißt du, dass ich dieses Zimmer habe?“, fragte ich erstaunt. Doch wieder gab er mir keine Antwort. Er schaute mich mit den gleichen Blick seiner roten Augen an.
Wieso waren seine Augen plötzlich rot?
Dann ging er den Flur entlang zur Treppe und stieg diese hinunter. Zumindest dachte ich dies. Ich sah in dort einbiegen, aber hörte seine Schritte nicht. Ich ging hinterher und dann war er plötzlich verschwunden.
Ich blieb mehrere Sekunden lang wie angewurzelt oben sn der Treppe stehen. Ich hatte Angst.
„Was passiert hier?“, flüsterte ich. „Bin ich verrückt?“
Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür ab und legte mich ins Bett.
„Das liegt am Stess. Es ist alles in Ordnung. Ruh dich aus!“, sagte ich zu mir selbst. Doch es half nicht. Ich konnte nicht einschlafen.
Nach einer Stunde wenden und drehen musste ich kurz ins Bad gehen. Doch die Tür war abgeschlossen.
Ich machte das Licht an, nahm den Zimmerschlüssel und wollte mit ihm die Tür aufschließen, doch sie hatte von außen kein Schloss. Ich drückte noch einmal die Klinke und
dann ging die Tür auf einmal auf. Innen brannte das Licht, der Raum hatte keine Fenster, aber eine Lüftung, die aber dem Geruch nach schon lange defekt war.
Ich verrichtete schnell mein Geschäft und ging dann wieder ins Bett. Diesmal konnte ich etwas schneller einschlafen, doch die Ruhe hielt nicht lange an. Plötzlich zerbrach das Fenster des Zimmers mit einem lauten Scheppern, als hätte jemand einen Ziegelstein dagegen geworfen. Ich wachte schlagartig auf und setzte mich auf. Kalter Wind wehte mir um die Ohren und ich hörte meinen Puls rasen.
Ich machte das Licht an und sah, dass das gesamte Glas aus dem Rahmen gebrochen ist. Allerdings fanden sich im Zimmer keine Scherben. Es wurde von innen zerstört.
Ich blickte mich um. Niemand war da, aber ich hatte Angst bekommen. Ich stieg aus dem Bett, zog mir eine Hose und eine Jacke drüber, schnappte meinen Koffer und rannte aus dem Zimmer. Auf der Treppe nach unten musste ich abrupt stehen bleiben. Der Junge stand da. Er war deutlich größer als vorher, so dass ihm der Anzug perfekt passte. Er hatte glühend rote Augen und schaute mich finster an. Panik ergriff mich. Ich stieß ihn die Treppe hinunter und rannte über seinen leblosen Körper hinweg zur Tür, die überraschenderweise offen stand. Draußen auf dem Parkplatz stand kein Auto mehr. Bis auf die Laternen und dem Dorf am Horizont war nichts menschliches zu erkennen. Dann hörte ich plötzlich laute Schritte aus dem Hotel kommen. Ich rannte auf das abgeerntete Maisfeld zu, an dessen anderen Ende das Dorf war. Kurz vor dem Feld stolperte ich und flog auf den Boden. Ich wollte aufstehen, aber eine riesige, unsichtbare Hand drückte mich zu Boden. Ich schrie, zappelte und schlug um mich, aber ich erwischte nichts. Wie ein Magnet war ich an den Boden gepresst. Hinter mir brüllte eine laute, tiefe Stimme die Worte „HENDRIK SCHWEINEHIRN“. Ich spürte einen starken Schmerz in meinem Nacken, dann war alles schwarz.

Benny

Um kurz vor 10 war ich im Hotel. Mehrere Autos standen vor dem Gebäude, mehr als Abend zuvor. Ich ging hinein und hörte aus dem Restaurant mehrere Stimmen. Scheinbar kamen viele Menschen zum Frühstücken hierher.
Die Frau an der Rezeption begrüßte mich freundlich, und ich ging ins Restaurant um Hendrik zu suchen. Aber er war nicht beim Frühstücken. Ich ging zurück zur Rezeption.
„Können Sie mir sagen, welches Zimmer Hendrik Kelleser hat?“
„Hendrik Kelleser?“
„Ja.“
Sie schaute kurz ins Gästebuch.
„Tut mir leid, hier wohnt kein Hendrik Kellserer.“
„Aber er hat gestern Abend hier eingecheckt.“
„Kann nicht sein, wir sind seit zwei Tagen ausgebucht.“
Ich schaute sie verwirrt an.
„Sind Sie sicher?“
„Absolut. Wenn hier gestern jemand eingecheckt hätte, wüsste ich das. Das Hotel gehört mir ja schließlich.“
Ich war verwirrt.
„Aber ich habe extra ein Zimmer für ihn gebucht. Vorgestern.“
„Dann müssen Sie sich wohl verwählt haben. Hier wurde kein Zimmer gebucht. Selbst wenn, hätten wir Ihnen keines geben können. Wir sind voll.“
Ich schaute sie lange irritiert an.
„Na gut. Danke.“ Ich ging hinaus. Wo war Hendrik? Er muss hier sein, ich hab ihn gestern hier abgeliefert. Wo hat er übernachtet?

Sarah

„Guten Morgen, Schatz!“
„Guten Morgen!“
Antonio kam aus dem Schlafzimmer und gab mir einen Kuss. Er setzte sich an den gedeckten Frühstückstisch und ich servierte ihn einen Teller Rührei mit Speck.
„Danke Liebling. Wann wollte Hendrik nochmal wiederkommen?
„In zwei Tagen.“, antwortete ich.
„Dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit für uns!“, sagte er und lächelte mich an. Ich lächelte zurück.
„Sagst du ihm dann das mit uns, oder wartest du bis er weg ist? Denn den Abschiedswein nächste Woche würde ich doch gerne noch ausgegeben bekommen.“ Er grinste.
„Keine Sorge, er wird nichts von uns erfahren. Hat er in den letzten 6 Monaten doch auch nicht, oder?“
„Du hast recht. Danke. Ich geh mal kurz in den Keller, den Sekt hinaufholen. Dann stoßen wir an.“
„So früh? Aber von mir aus.“
Er stieg die Treppen hinunter und ich setzte mich an den Tisch um mir ein Brötchen zu schmieren. Dann hörte ich ihn plötzlich einen Schrei ausstoßen.
Ich rannte hinunter in den Keller. „Schatz, was ist passiert?“ Unten angekommen stieß auch ich einen Schrei aus.
Auf dem kalten Kellerboden lag Hendrik. Tot, mit abgetrenntem Kopf in einer Blutlache.
Antonio und ich schauten ihn entsetzt an. Was ist passiert und wie kommt er hierher?