Freitag, 28. Juni 2013

Unsichtbare Schreie in der Schule

Psycho-Killer findet neues Opfer

Polizist auf der Jagd nach dem Verbrecher brutal ermordet
Vor 10 Jahren wurde eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt, als ein Unbekannter eine Gruppe Grundschulkinder in eine Falle lockte und wahrscheinlich auf grausame Weise tötete. Die genauen Umstände konnten bis heute nicht geklärt werden. Nur eines der Kinder überlebte diesen Tag, muss aber den Rest seines Lebens mit den mentalen Folgen leben.
Vor ein paar Tagen wurde der Wald, in dem das Verbrechen geschah wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht(wir berichteten). Auch der Täter kam zurück. Im Waldstück wurden Hinweise gefunden, dass dieser ein neues Opfer sucht. Daraufhin hat sich ein Polizist alleine auf die Lauer gelegt, um den Mörder am Tatort zu stellen. Für seinen Alleingang musste der Recklinghäuser mit seinem Leben bezahlen. Der Mörder hat ihn entführt und umgebracht. 
Vor zwei Tagen erreichte die Polizeizentrale ein Paket vom Mörder, das Leichenteile und das Tagebuch des Polizisten enthielt, in dem der Ablauf des Verbrechens dokumentiert.
Die Polizei sucht nun mit Hochdruck nach dem Mörder. Eltern wird geraten ihre Kinder abends nicht mehr alleine auf die Straßen gehen zu lassen, da zu erwarten ist, dass er erneut zuschlägt. 
„Wir tun alles was in unserer Macht steht um den Menschen ihre Sicherheit zurückzugeben!“, sagte ein Polizeisprecher im Interview mit dieser Zeitung. [...]

Matthias schlug die Zeitung zu, legte sie zur Seite und wendete seinen nachdenklichen Blick aus dem Fenster.
Zur Zeit des ersten Mordes war Matthias gerade auch acht Jahre alt. Mit einem der Opfer war er sogar zusammen im Kindergarten, daher hat er natürlich den Trubel in den Medien und bei den Menschen mitbekommen. Seine Eltern ließen ihn und seinen zwei Jahre älterer Bruder für Monate nicht mal alleine zur Schule gehen, so besorgt waren sie. So ging es vielen Eltern, und auch Lehrer waren in den Pausen besonders aufmerksam, da ja niemand wusste, wie der Mörder das angestellt hat und ob sich das nicht jederzeit wiederholen kann.
Und nun hat es sich wiederholt. Nur, dass diesmal ein Erwachsener das Opfer war.
Matthias' Vater betrat die Küche und setzte sich neben ihn an den Frühstückstisch.
„Guten Morgen, Junge.“
„Morgen Papa. Hast du das mit dem Polizisten gehört?“
„Welcher Polizist?“
„Der, der hier an der Zeche ermordet wurde. Es soll der Täter gewesen sein, der vor 10 Jahren die Kinder abgeschlachtet hat.“
Der Vater füllte seine Tasse mit Kaffee und trank einen Schluck.
„Wähle bitte einen anderen Ausdruck als 'abgeschlachtet'. Ein bisschen Respekt sollte schon sein. Aber ja, ich habe davon gehört. Haben die gestern in den Nachrichten gebracht.“
„Und was hältst du davon?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der gleiche Täter ist, wie beim letzten Mal. Das ist 10 Jahre her, wie du schon sagtest. In dem Zeitraum hätte es andere Opfer gegeben, wenn es ein Wiederholungstäter ist.“
„Kann doch sein, dass es welche gab. Es werden doch immer wieder Menschen vermisst gemeldet und nicht wieder gefunden. Er muss ja nicht in Recklinghausen geblieben sein, so dass kein Zusammenhang zu damals hergestellt wurde.
„Kann ich mir aber eigentlich nicht vorstellen. Dann hätte man doch diese Sägen gefunden, die doch angeblich sein Markenzeichen sein sollen.“
„Vielleicht hat er diese Säge nur einmal verwendet, und hat dies nun wiederholt, weil das Verbrechen am gleichen Ort geschehen ist?“
„Glaube ich nicht. Das war sicherlich ein Trittbrettfahrer, der eine Hysterie wie damals auslösen wollte, was er anscheinend auch geschafft hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass es diese 'Los Kanakos'-Typen waren. Die haben in letzter Zeit so viel angestellt.“
„Aber ermordet haben sie noch niemanden.“
„Das muss doch nichts heißen.“
„Ja, aber ich denke das ist der gleiche Täter. Und er wird wieder zuschlagen.“
„Wann? In 10 Jahren? Nein, ich lass mich nicht wieder verrückt machen so wie damals. Wenn du das willst, von mir aus, aber für mich ist das Thema gegessen.        
Ist deine Mutter schon bei der Arbeit?“
Matthias war ein wenig verärgert, dass sein Vater die Situation nicht ernst nahm. Aber er wollte sich nicht mit ihm streiten, da er wusste, dass sein Vater sich nicht von ihm beirren lässt.
„Ja, sie hat nur eben schnell Frühstück gemacht und ist dann vor etwa 30 Minuten aus dem Haus gegangen.“, antwortete Matthias.
„Okay. Und was hast du heute vor? Gehst du deinen Bruder besuchen?“
„Nein, ich muss zur Schule.“
„An einem Samstag?“, fragte der Vater verwirrt.
„Ja, ich bin doch in dieser Projektgruppe, mit der wir an diesem Wettbewerb teilnehmen, und da wollen wir uns heute treffen um weiterzuarbeiten.“
„Ist zwar seltsam so kurz vor den Sommerferien aber na gut. Kann sicher nicht schaden. Wann musst du denn da sein?“
Matthias schaute auf seine Armbanduhr und entschied, dass er weiteren Gesprächen mit seinem Vater aus dem Weg gehen wollte.
„Ich muss jetzt los.“, antwortete er, trank seinen Kaffee aus, stand auf und verließ den Raum. Dabei rief er seinem Vater noch zu: „Bin zum Mittagessen wieder hier.“ Und kurz darauf hat er das Haus verlassen.
Auf dem Weg zur Schule beobachtete er die Menschen. Sie gingen alle schneller als sonst und allgemein waren weniger Menschen auf den Straßen als an einem normalen Samstag Vormittag. Vor allem Kinder waren kaum zu sehen. Die Spielplätze waren verwaist, nur ein kleines, türkisches Mädchen saß auf der Schaukel, während ihre Mutter auf der Bank wie ein Erdmännchen die Umgebung scannte.
Polizisten gingen zu zweit Streife und hielten jeden an, der verdächtig wirkte. Ein Bauarbeiter, der eine Säge mit roten Farbspritzern bei sich trug wurde gleich von insgesamt fünf Polizisten umringt und versuchte fast schon panisch die Polizisten von einem unglücklichen Zufall zu überzeugen.
'Wenn es nur ein Trittbrettfahrer war und es keine weiteren Überfälle gibt', dachte Matthias, 'warum sind dann alle Menschen so besorgt?'
Auf den letzten Metern zur Schule dachte er weiter über den Mord nach. Seit dem letzten Abend wollte ihm diese Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Als er an der Schule ankam, sah er auch schon das Auto von seinem Lehrer Herr Winsiewski, sowie das Auto von Heiko und das Fahrrad von Lukas. Sonst war niemand in der Schule.
'Zum Glück sind die immer so früh dran, sonst dürfte ich draußen stehen und warten.' dachte er und ging zum Haupteingang im Nordosten der Schule.
Die Schule war quadratisch aufgebaut und bestand aus vier Stockwerken. Die Flure waren außen an den Seiten, während die Klassenzimmer nach innen zum Innenhof der Schule angebracht waren. Die Treppenhäuser waren in den vier Ecken des Quadrates.
Der Raum, wo sich die Projektgruppe traf, war im 3. Stockwerk an der Nordseite.
Matthias betrat die Schule. Der Haupteingang war der einzige, der geöffnet war. Wie immer, wenn es außerschulische Veranstaltungen gab.
Er ging, noch immer in seinen Gedanken bei dem Verbrechen, die Treppen nach oben und hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.
Als er den ersten Stock erreichte hörte er von rechts plötzlich einen Schrei.
Er fuhr zusammen und wäre vor Schreck fast die Treppen runtergefallen, aber er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten.
Der Schrei war nicht laut, aber in einer hohen Tonlage, wie ein kreischendes Kind. Er riss Matthias aus seinen Gedanken in die Realität.
Matthias' Herz raste. Mit zitternden Schritten ging er auf den Gang zu, aus dem der Schrei kam.
„I-Ist da jemand?“, rief er zögernd.
Es kam keine Antwort und es war niemand zu sehen. Die Räume waren alle verschlossen, ebenso die Tür, die den Ost- vom Südflügel trennt.
Er blieb eine Minute stehen, aber es rührte sich nichts.
Unsicher was er wahrgenommen hat, setzte er, immer noch mit erhöhtem Puls, seinen Weg nach oben fort. Diesmal allerdings deutlich schneller als zu Beginn.
Als er den Raum erreichte, wurde er freundlich empfangen:
„Grüß dich, Matthias!“, sagte Herr Winsiewski und musterte ihn. „Was ist los, du bist so blass?“
„Er hat letzte Nacht zu lange gezockt.“, scherzte Lukas.
„Nein,“, sagte Matthias, „ich hab nur vorhin... ich hab mich erschreckt.“
„Vor was?“
„Da war etwas im ersten Stock. Es hat geschrien. Aber ich hab niemanden gesehen.“
Wisniewski runzelte die Stirn und schaute ihn an. Lukas saß neben Heiko in der anderen Ecke des Raumes und spottete weiter gegen Matthias: „Von zu viel World of Warcraft bekommt man Halluzinationen, weißt du doch.“
„Ich denke auch, dass du dir das eingebildet hast.“, sagte Wisniewski. „In der Schule ist niemand.“
Matthias war sich selbst nicht mehr sicher, was er denken sollte. War es real oder hat er sich so viele Gedanken über den Mord gemacht, dass er schon davon halluziniert? Er wusste es nicht, aber er beschloss die Sache zu vergessen und fing an den anderen bei der Arbeit am Pendel zu helfen.
„Wer kommt denn noch alles?“, fragte er später als Herr Winsiewski zum Baumarkt gefahren ist.
„So viel ich weiß nur noch Benny, wenn er aus Essen zurückkommt.“, antwortete Heiko und schaute kurz auf die Uhr. „Eigentlich müsste er gleich kommen. Gut so, vier Leute sind zu wenig um das Ding zusammenzubauen.“
Fünf Minuten später, Herr Winsiewski war noch nicht zurückgekehrt, klopfte es an der Tür.
„Tür ist offen, komm rein.“, rief Heiko, der gerade die Bauanleitung studierte.
Die Tür blieb geschlossen und es klopfte erneut.
„IST OFFEN!“, schrie Heiko diesmal, aber wieder betrat keiner den Raum und es klopfte erneut.
„Will Benny mich verarschen?“ Heiko legte die Anleitung zur Seite,  ging zur Tür und trat hinaus. „Wieso klopfst du dauernd und kommst nicht einfach...“
Er schaute auf den Flur, aber es war niemand zu sehen.
„Benny?“ Er trat auf den Flur und ging ein paar Meter in jede Richtung.
Als er zum Physik-Raum zurückkehrte, fragte Matthias:
„Was war da los, wer hat geklopft?“
„Anscheinend Niemand. Zumindest ist keiner auf dem Flur.“
„Vielleicht wollte uns jemand ärgern.“, warf Lukas ein.
„Wer denn?“, fragte Heiko.
„Irgendeine AG oder so.“
„An einem Samstag? Außerdem weiß doch keiner, außer Herr Winsiewski und Benny, dass wir hier sind.“
„Doch, der Sohn von Herr Winsiewski.“
„Glaubst du im ernst, dass er extra hierhin kommt, um seinen Vater zu ärgern? Außerdem war keiner auf dem Flur.“
„Komisch. Erst der Schrei, jetzt das...“, murmelte Matthias mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Sie machten sich schweigend wieder an die Arbeit. Bei der Sache waren sie aber nicht, da jeder eine Antwort auf diese Frage suchte. Bis Herr Wisniewski durch die Tür kam.
„Na, Benny immer noch nicht da?“
„Anscheinend nicht.“, sagte Matthias nach kurzem zögern.
„Er kommt sicher gleich, steht im Stau oder so. Kommt einer von euch mit runter zum Auto, um den Sand hochzutragen?“
„Mach ich.“, sagte Lukas und verließ mit Herr Winsiewski den Raum.
Kurz darauf fragte Heiko: „Wollen wir Herr Winsiewski nicht von dem Klopfen erzählen? Vielleicht hat er jemanden gesehen.“
„Ich denke das hätte er uns gesagt, wenn jemand in der Schule rumläuft. Und nein, das mit dem Schrei hat er mir ja auch nicht geglaubt.“
„Stimmt, du hast ja einen Schrei gehört, ganz vergessen. Hängt das vielleicht zusammen?“
„Wie denn?“
„Wie Lukas schon sagte, vielleicht will uns jemand ärgern. Oder uns Angst machen. Jetzt wo der Killer....“
Ein weiterer Schrei, der diesmal vom Flur vor dem Physikraum kam, ließ ihn verstummen. Ein Schrei einer bekannten Stimmt.
„Lukas!“
Heiko rannte raus und sah vor der Tür den verstümmelten Körper von Lukas liegen. Der rechte Arm fehlte und überall war Blut. Weiter den Flur entlang lag Herr Winsiewski, ebenfalls in einer Blutlache.
„Scheiße.“
Er rannte zu ihm hin und brauchte nicht lange um die Situation zu erkennen. Er riss das Schlüsselbund aus der leblosen Hand, rannte zurück zum Physikraum und schloss Matthias und sich ein. Schwer atmend, fast schon keuchend setzte er sich auf den nächsten Stuhl und Matthias brauchte nicht lange, um an seinem Gesichtsausdruck die Situation zu erkennen. Ein fragender Blick und Heikos entsetztes Nicken bestätigten seine Vermutung. Er holte sofort sein Handy raus und wählte die Nummer der Polizei. Doch ein Blick auf das Display verhinderte es.
„Kein Empfang.“
Angst verhinderte weitere Gespräche. Sie wussten, sie waren gefangen. Im Flur lief der Mörder herum und wenn sie durch das Fenster gingen, würden sie nach drei Stockwerken schutzlos und immer noch gefangen im Innenhof landen. Die einzige Möglichkeit war, dass sie dort warten, bis jemand vorbei kommt.
„Benny!“, brach es nach langem Schweigen aus Matthias heraus. „Wenn er kommt, läuft er dem Mörder in die Arme.“
Heiko schaute ihn mit unverändertem Gesichtsausdruck an.
„Und was willst du dagegen machen? Wenn du rausgehst, um ihn zu warnen, bist du genauso tot.“
Er hatte leider Recht. Entweder Benny oder alle. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder?
Ein Kratzen an der Tür unterbrach seine Gedanken.
„Er steht vor der Tür.“, flüsterte Heiko. In seiner Stimme lag deutlich die Todesangst.
„Aber er kann nicht rein. Das ist eine Sicherheitstür und er hat ja nur.... eine Säge.“, stammelte Matthias und versuchte vergeblich dabei beruhigend zu klingen.
Das Kratzen hielt an. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Fünfzehn ohne Unterbrechung. Im Raum saßen Matthias und Heiko in der hintersten Ecke unter einem Tisch. Ohne zu reden, ohne irgendein Geräusch zu machen.
Halbe Stunde. Immer noch das Kratzen. Zwischendurch hörte es immer wieder für einige Sekunden auf, aber gerade als sie sich Hoffnungen machte, setzte es wieder ein.
Eine Stunde. Das Kratzen ist verstummt. Schon seit einigen Minuten. Aber sie saßen in der gleichen kauernden Position auf dem Boden, als es plötzlich klopfte.
Sie zuckten zusammen. Matthias entfuhr ein kleiner Schrei. Die Tür öffnete sich und Benny betrat den Raum. Er sah die Gesichter von Matthias und Heiko und fragte:
„Was ist denn hier los?“
Nach kurzem Schweigen antwortete Heiko.
„Wie bist du hier rein gekommen? Wo ist Er?“
„Durch die Tür! Meinst du Winsiewski?“
„Hast du ihn draußen nicht gesehen? Mit Lukas?“, fragte Heiko verwundert.
„Was, nein, wieso? Sind die eben rausgegangen?“
Heiko stand verwundert auf und ging mit zitternden Knien auf den Flur hinaus.
Tatsächlich. Nichts. Keine Leiche, kein Blut. Kein Killer.
Keine Kratzer an der Tür.
Er schaute auf sein Handy. Empfang.
„Was ist hier passiert?“, fragte Benny, als er Heikos Gesicht nach der Inspektion gesehen hatte.
Heiko erzählte ihm die Ereignisse der letzten Stunden, während Matthias die Polizei rief. Als diese eintraf, wiederholten sie die Geschichte.
Nachbarn sagten später aus, dass sie Niemanden die Schule betreten oder verlassen sahen. Daraufhin durchsuchte die Polizei das Gebäude und fand im ersten Stock auf der Ostseite die Leiche eines kleinen, türkischen Mädchens, dass erst vor wenigen Minuten als vermisst gemeldet wurde. Neben dem Körper lag die Säge.
Lukas und Herr Winsiewski blieben verschwunden.
Heiko und Matthias haben daraufhin die Schule gewechselt, ebenso wie Benny und viele weitere Schüler, vor allem jüngere. Das Ende der Schule ist nahe.

Dienstag, 11. Juni 2013

Die Karte


Das Leben in Berlin bietet einem Menschen viele Möglichkeiten. Möglichkeiten, die man in vielen anderen Städten von Deutschland nicht hat. Zum Einen ist es die Größe dieser beeindruckenden Stadt, die einem als Einzelnen doppelte Chancen gibt. Versagst du an einem Ort, gehst du ein Stadtteil weiter. Die vielen Menschen sorgen nicht nur dafür, dass du viele Kontakte knüpfen kannst und fremde Kulturen kennen lernst, sondern auch, dass du viele Einnahmequellen hast. Wenn ein Mensch dir nichts bringt, gehst du zum Nächsten. 
Mein aktueller Arbeitsplatz ist der Alexanderplatz. Ich arbeite dort als Taschendieb. Diese Methode Geld zu verdienen habe ich von meinem Onkel beigebracht bekommen. Er hat damit zu seiner besten Zeit mehrere tausend Mark die Woche gemacht, was ihn ein fast-luxuriöses Leben in Berlin ermöglichte. Und er wurde nie erwischt. Nie hat er eine Anzeige bekommen, nie hat er ein Gefängnis von innen gesehen. Er ist ein wahrer Meister dieser Branche.
Als ich mit elf Jahren nach dem Tod meiner Eltern zu ihm kam, hat er schnell mein Potential erkannt und mich ausgebildet. So konnte ich mit 16 die Schule abbrechen und arbeite nun schon seit sieben Jahren vollzeit mit ihm zusammen. Auch ich wurde noch nie erwischt. Zumindest nicht in den letzten Jahren. In meiner Anfangszeit bin ich beim Üben mehrfach auf die Nase gefallen. Aber kein Gericht der Welt steckt ein Kind in den Knast. Daher konnte ich bis jetzt nahezu ungestört arbeiten.
Auch heute bin ich wieder am Alex unterwegs. Es ist einer der besten Plätze in Berlin, das hat mein Onkel schon früh erkannt. Die beste Zeit ist ein Freitag Nachmittag, wenn die Menschen von der Arbeit kommen, unvorsichtige 14 jährige shoppen wollen oder Menschen einfach Freunde treffen wollen. Das sonnige, sommerliche Wetter lockt noch mehr Menschen ins Freie. Eis- und Bratwurstverkäufer laufen über den Platz und ziehen die Massen an.
Ich gehe den Platz auf und ab, unauffällig, immer auf der Hut, dass mich niemand länger als 5 Sekunden beobachtet. Vor allem kein uniformierter. 
Ich trage einen Anzug mit Krawatte, trage dunkle Schuhe und dunkle Hosen. So sehe ich aus wie ein Geschäftsmann. Niemand unterstellt mir etwas. 
Auf der Suche nach dem ersten Opfer des Tages, fallen mir zwei übermütige Jugendliche auf, die versuchen von hinten an die Handtasche einer Frau zu gelangen. Sie werden natürlich erwischt. Die Frau schreit hysterisch auf und die Halbstarken flüchten in den U-Bahnhof. 
“Amateure!”, denke ich und grinse vor mich hin. Dann sehe ich einen Mann, der in der Schlange des Bratwurstverkäufers steht. Seine Jeanstasche scheint viel zu klein für seine Geldbörse. Sie guckt zur Hälfte raus, bei der kleinsten hastigen Bewegung fällt sie auf den Boden. Perfekt. Ziel erfasst. 
Der Verkäufer steht direkt neben dem Eingang zur U-Bahn. Ich warte 50 Meter entfernt auf einer Bank, bis der Mann seine Wurst hat und sein Geld wieder unzulänglich in der Jeans verstaut ist. Dann geht es los. Ich schaue auf die Uhr und spurte zum Bahnhof. Die Menschen um mich herum beachten mich kaum. Ich bin nicht der erste Geschäftsmann, der seine U-Bahn zu verpassen droht. Auf den Weg dahin stoße ich sanft mit dem Bratwurstesser zusammen. Meine Finger sind blitzschnell, noch bevor ich mich kurz und aufrichtig bei dem Mann für meine Ungeschicktheit entschuldige, ist sein Geld in meiner Anzugtasche verschwunden. Ich renne weiter nach unten und beachte den Mann hinter mir nicht mehr, suche mir die nächste U-Bahn und steige ein. 
Nach drei Stationen steige ich aus und zeige dem Schaffner auf dem Weg nach draußen noch meine Monatskarte. Ein wichtiges Arbeitsutensil für diesen Job.
Wieder auf der Straße setze ich mich an der nächsten Bushaltestelle auf die Bank und begutachte meine Beute. Hundertdreißig, hundertvierzig Euro. Nicht schlecht für sechzig Minuten Arbeit.  Aber es geht noch mehr. Daher steige ich in den nächsten Bus zum Alex und fahre zurück. Ich gehe nicht direkt wieder auf den Platz, sondern erst ins Alexa, wo ich auf der Besuchertoilette die Geldbörse und die Papiere des Mannes verschwinden lassen, und das Geld in meiner eigenen verstauen kann. Fertig. Noch ein Snack für zwischendurch und zurück zur Arbeit. Aber diesmal komme ich nicht bis zum Platz. Am Eingang des Einkaufszentrums sehe ich eine Gruppe von Schülerinnen, die gerade eine Handtasche bewundern, die eine von ihnen gekauft hat. Dabei lassen sie ihre eigenen Handtaschen vollkommen aus dem Blick. Zudem stehen sie genau in der Ecke, die nicht von den Kameras überwacht wird. Diese hat mir mein Onkel vor Jahren gezeigt. Wie eine Einladung zu einem Drei-Sterne-Menü. 
Den In-die-U-Bahn-rennen - Trick kann ich hier nicht anwenden. Daher muss ich das Opfer anders ablenken.
Ich gehe schnellen Schrittes an der Gruppe vorbei und remple die Zweite an, während meine Hand in die Handtasche der ersten wandert. Ich bleibe stehen und entschuldige mich bei ihr, während sie mich anschnauzt. Ich gehe langsam Rückwärts, wiederhole meine Entschuldigung, während sie wie erwartet ihre Handtasche überprüft und dort das Portemonnaie vorfindet. Die andere, deren Portemonnaie ich nun habe, fühlt sich unbeteiligt, so dass ich trotz Beschimpfungen das Alexa mit mehr Geld als vorher verlassen kann, nachdem sich die Angerempelte beruhigt hat. 
Draußen suche ich mir wieder eine Haltestelle, aber abseits vom Alexanderplatz. Eine Geldbörse mit Blumenmuster bei einem Geschäftsmann in einer Menschenmenge ist zu auffällig.
Ich finde 200 Euro. “Da hat wohl jemand Taschengeld bekommen.”, denke ich und stecke sie zurück in meine Tasche. “340 Euro sind für heute ausreichend.”, entscheide ich, gehe zum U-Bahnhof und steige in die U 8 Richtung Wittenau. Ich wohne in einem Haus mit meinem Onkel in Reinickendorf. Auf den Weg zur U-Bahn sehe ich meine beiden Opfer nicht mehr. “Ob sie schon von ihrem Verlust erfahren haben?”, frage ich mich und grinse bei dem Gedanken, wie das Mädchen sich eine neue Handtasche kauft, und sie nicht bezahlen kann.
Nach einigen Minuten erreiche ich den Bahnhof “Rathaus Reinickendorf” und steige aus. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Auf dem Weg nach oben sehe ich eine ältere Dame, ich schätze sie auf 60, am Treppeneingang stehen. Sie hält ein Iphone an ihr Ohr und redet in einer fremden Sprache. Über ihre Schulter hängt eine offene Handtasche, bis zum Rand mit Papieren und Mappen gefüllt. Die Geldbörse oben auf. 
Ohne zu denken beschleunige ich, remple und greife. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Ich brauch mich nicht mal entschuldigen, die Frau scheint keine Notiz von mir genommen zu haben. Umso besser.
Noch fünf Minuten bis nach Hause. Auf dem Weg entledige ich mich dem Portemonnaie des Mädchens, indem ich es in einem unbeobachteten Moment in ein Gebüsch werfe, während das Geld in meine Tasche wandert. Die Beute vom Rathaus werde ich Zuhause begutachten.
Als ich dort eintreffe, sitzt er bereits unten in der Küche. Vor sich sein abendlicher Wodka.
“Jackpot dabei?”, fragt er mich wie jeden Tag.
“340 plus das hier.”, sage ich und zeige ihm die Geldbörse der alten Dame. 
“Was ist da drin?”
“Weiß noch nicht, werd es gleich herausfinden.”
Ich gehe nach oben in den ersten Stock, wo sich meine kleine Wohnung befindet. Dort setze ich mich auf mein Bett und schaue in die Geldbörse. Zu meiner Überraschung ist diese fast leer. Keine Papiere, kein Geld. Nicht mal Centstücke. In dem Fach, wo sich eigentlich die Geldscheine befinden sollten, finde ich nur ein Stück dünne Pappe in der Größe einer herkömmlichen Spielkarte. Sie ist auf einer Seite mit einer Schwarz-Weiß-Skizze bedruckt, dass eine alte Frau zeigt. Diese liegt auf einem Weg oder einem Fluss, mit halb geöffneten Augen und schaut in den Himmel. Als würde sie jeden Moment sterben. Als würde sie diesen Moment herbei sehnen. Neben der alten Frau sind auf der Karte Verzierungen und Zeichen, die ich nicht zuordnen kann. Möglicherweise eine fremde, lange vergessene Sprache. Zudem auch Symbole, die mir bekannt sind. Eine Mondsichel, sowie drei Kreuze, die die Eckpunkte eines Dreiecks bilden, dass die Frau umschließt.
Ich beschließe die Karte zu behalten. Auch wenn ich nichts damit anfangen kann, könnte sie was wert sein. Ich stecke sie zusammen mit dem Geld, dass ich heute eingenommen habe, in eine Box unter meinem Bett. Damit falle ich bei keiner Bank mit “unversteuerten Einnahmen” auf.
Ich gehe nochmals runter ins Erdgeschoss zu meinem Onkel, sage ihm, dass die letzte Geldbörse leer war und frage nach Abendessen. Wie fast immer bekomme ich die Antwort “Bestell dir ne Pizza!”. Nur selten gibt es bei uns im Haus eine gemeinsame Mahlzeit. Da ich diesmal keinen Appetit auf Fast Food habe, beschließe ich einen Abend mit Chips vorm Fernseher. 

Ich werde Stunden später von einer Sirene geweckt. Ich liege auf meinem Bett, mit der Chipstüte unterm Arm, der Fernseher läuft noch. Ich denke zuerst, das Geräusch kommt von dort. Dann nehme ich einen Geruch wahr und ich realisiere, dass es der Feueralarm ist.
Ich ziehe mir schnell eine Jeans drüber und renne nach unten. Die Küche steht bereits lichterloh in Flammen, der Rauch ist so dicht, dass ich nicht sehen kann, was in den anderen Räumen ist; wo mein Onkel ist. Ich vermute, dass er bereits draußen ist und renne durch die offen stehende Tür nach draußen, wo ich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder Luft holen konnte. Erst jetzt sehe ich den Ursprung des Feuers: Unseren Keller. Die Flammen gucken aus den Kellerfenstern wie die Hälse der Drachen, die die Küche anfressen. Auch die beiden Nachbarhäuser sind von den Flammen im Keller betroffen.
“Brandstiftung!”, vermute ich. Wie sonst können mehrere Keller gleichzeitig Feuer fangen?
In der Ferne höre ich bereits die Sirenen der Feuerwehr. Ich schaue mich um. Mein Onkel steht nicht auf der Straße. Unter den viele Gesichtern, Schaulustige, Betroffene, kein bekanntes. 
Ich überlege, ob ich wieder rein soll und ihn retten, als es plötzlich zu einer Explosion kommt, die die Mauern zerfetzte und die herumstehenden Personen umwarf.

Am nächsten Morgen wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Fünf Reihenhäuser wurden von den Flammen und der Explosion zerstört. Neben der verkohlten Leiche meines Onkels wurden von der Feuerwehr drei weitere Leichen geborgen. Das ältere Ehepaar, dass neben uns wohnte, sowie ein Gaffer, der bei der Explosion von einem Trümmerteil erwischt wurde. Viele weitere wurden verletzt. Ich gehöre glücklicherweise nicht dazu. Ich habe zwar alles verloren, außer die Hose, die ich anhabe, aber mir geht es gut. Nachdem die Feuerwehr eintraf, weigerte ich mich ins Krankenhaus zu gehen, um mich untersuchen zu lassen. Stattdessen fuhr ich mit der U-Bahn zum Alexanderplatz und wartete dort auf den Morgen. 
Dort sitze ich immer noch. Ohne Haus, ohne Anzug, in einem Unterhemd, mit dem bisschen Geld von gestern. Ich frage mich wohin. Nach dem Tod meiner Eltern kam ich zu meinem Onkel. Ich hatte nie viel Kontakt zu anderen. Jetzt bin ich allein. Ich könnte zwar zu einem meiner Bekannten gehen, aber diese wissen nichts von meiner Tätigkeit. Und es soll auch so bleiben.
Ich entschließe mich zu einem Spaziergang durch die Stadt. Vielleicht habe ich Glück und finde etwas.
Nach etwa einer halben Stunde erreiche ich das Brandenburger Tor. Dort kaufe ich mir eine Bratwurst, als ich die Karte der alten Dame in meinem Portemonnaie sehe. Ich dachte, ich hätte sie im Haus gelassen und sie wäre dort verbrannt. Da ich nichts zu verlieren habe, frage ich den Verkäufer, ob er mir etwas über diese Karte sagen kann. Vielleicht kann sie mir noch nützlich sein.
“Tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Sieht mir aus wie eine Tarotkarte, aber ich weiß es nicht.”
Wie ich erwartet habe. Ich bedanke mich, nehme mir die Bratwurst und stecke gerade die Karte zurück in meine Tasche, als der Verkäufer sagt: “Ich kenne jemanden, der vielleicht helfen kann. Sie ist Kartenlegerin, allerdings ist sie nur nachts erreichbar. Wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?” Ich weiß keine Antwort. Achselzuckend sage ich “In der Spree!” und teile ihm mit meinen Blicken mit, dass er nicht erneut fragen soll. “Na gut... Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend um 22 Uhr erneut hier treffen, dann zeige ich ihnen den Weg. Die Frau ist ein wenig menschenscheu, daher ist es besser, wenn ein bekanntes Gesicht dabei ist.”
“Was habe ich schon zu verlieren?”, sage ich. 
Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht würde ich dort Obdach finden. Die Frau und der Verkäufer sind eindeutig nicht ganz sauber.  Wer weiß, was sich daraus ergibt.
Die Wartezeit überbrücke ich, in dem ich mir “Unter Den Linden” Hemd, Anzug und literweise Kaffee kaufe. 
Als es endlich dämmert, stehe ich bereits am Brandenburger Tor. Nach wenigen Minuten kommt der Wurstverkäufer. Er trägt nun ebenfalls einen Anzug, anstatt seiner Grillschürze. 
“Wie ich sehe haben Sie sich umgezogen.”, sagt er. Ich gehe nicht darauf ein. “Führen Sie mich bitte zu Ihrer Bekannten.”, sage ich ruhig. 
Er ging voraus, ohne Worte folgte ich ihm. Als wir zur Spree gelangen, bittet er mich, ihm nochmals die Karte zu zeigen. Ich hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche, nehme die Karte heraus und halte sie ihm hin. Doch anstatt der Karte greift er sich das Portemonnaie, reißt es aus meiner Hand und stößt mich rückwärts mitsamt der Karte in die Spree. Ich stoße einen kurzen Schrei aus und tauche unter. Als ich meine Kopf wieder über Wasser bekomme, sehe ich noch, wie er mit meinem restlichen Geld die Straße entlang davon läuft.
“Dreckschwein!”, schreie ich ihm hinterher. Dann spüre ich plötzlich wie etwas an meiner linken Hand zieht, erst leicht, dann immer stärker, so dass es mich nach unten reißt. Ich merke, dass es die Karte ist, die plötzlich so schwer wie ein Haufen Ziegelsteine ist. Ich versuche meinen Griff zu lockern, die Karte loszulassen, doch ich kann meine Finger keinen Millimeter bewegen. Ich bin bereits am Grund der Spree angekommen, versuche meinen Kopf über Wasser zu kriegen. Ohne Erfolg. Es ist, als wäre mein Arm am Flussbett festbetoniert. Rütteln, ziehen, stoßen, während mir die Luft aus geht und ich schließlich das Bewusstsein verliere.