Donnerstag, 29. November 2012

Tür zum Dachboden

Sie stieg die Treppe hinauf. Die Treppe, die sie sonst nicht hinauf stieg. Sie führte zu dem Ort, den sie in den letzten Jahren gemieden hat wie eine Regenwolke die Sahara. Es war der Ort, an dem vor vielen Jahren ihr Vater unter bislang ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Damals war sie gerade mal acht Jahre alt.
Sie hat die Meldung von Tod ihres geliebten Vaters in der Schule bekommen. Es war die dritte Stunde Mathe, sie weiß es noch genau. Sie saß gerade an einer Rechenaufgabe als sie per Durchsage die Mitteilung erhalten hat, Anja möge bitte zum Büro des Schulleiters gehen. Natürlich folgte darauf eine Salve von fragenden und spöttischen Blicken ihrer Klassenkameraden, die sich fragten, was passiert sei. Anja selbst wusste es auch nicht. Als sie das Büro erreichte fand sie dort ihre 15-jährige Schwester vor, in Tränen aufgelöst, von ihrem ehemaligen Schulleiter gestützt.
Dieses Bild, wie ihre Schwester die schrecklichen Worte aussprach, hat Anja in den folgenden Jahren immer wieder im Traum verfolgt.
Am selben Nachmittag erfuhr sie von der Mutter, dass diese den Vater leblos auf dem Dachboden gefunden hat. Mit gebrochenem Genick.
Offiziell ist er im Dunkeln gestolpert und unglücklich aufgekommen, aber es bestanden immer Zweifel an der Todesursache.
Seit dem hat Anja den Dachboden nicht mehr betreten. Zu sehr schmerzte der Gedanke, an dem Ort zu sein, wo der erste Mann den sie liebte umgekommen ist.

Doch nun hatte sie keine andere Wahl mehr. Sie war mittlerweile 22 Jahre alt und verlobt. Sie ist eigentlich schon lange von zuhause ausgezogen, aber nun muss sie zurück in ihr Elternhaus, da ihre Mutter nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Anjas Schwester lebt und arbeitet mittlerweile in Amerika, hat also keine Möglichkeit die Mutter zu pflegen.

Anja stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Dachboden. Ihr verlobter Mike direkt hinter ihr. Oben war es stockfinster. Die Fenster waren seit dem Tag des Unfalls verdunkelt, eine Tat ihrer Mutter. Anja tastete nach dem Lichtschalter, doch die Glühbirne war schon lange durchgebrannt.
„Hier.“, sagte Mike und reichte ihr eine Taschenlampe.
Sie schaltete sie ein und leuchtete durch den Raum. Es sah genau so aus wie in ihren Erinnerungen aus glücklichen Kindertagen. An den Wänden rechts und links stapelten sich Kisten, gefüllt mir allerlei Dekorationsgegenständen, Büchern und alten Spielsachen. Auf dem Boden lag noch mehr desgleichen, dazu noch eine dicke Staubschicht und jede Menge undefinierbarer Kleinteile. Wer hier im Dunkeln herumgeht, wird schnell den Boden küssen.
Zum Glück hatte sie eine Taschenlampe.
Sie ging durch den Raum, schaute in Kartons, drehte mit ihrem Fuß Gegenstände auf dem Boden um. Mike tat es ihr auf der anderen Seite des Raumes gleich. Anja wusste genau wonach sie suchte. Sie hat noch deutlich das Bild im Kopf. Es war ein Kerzenständer, den ihre Eltern vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt erstanden haben. Von einem Bekannten und Kunstsammler wurde ihnen ein Foto eben jenes Gegenstandes gezeigt, den er suchte und der mehrere Tausend Euro wert war. Anja hat ihn sofort erkannt. Sie selbst hat kein Einkommen, ebenso wie Mike studiert sie. Sie leben von einem Nebenjob von Mike in einem Lebensmittelladen und von der Rente der Mutter. Daher durften sie sich die Chance auf diese Zusatzeinnahmen nicht entgehen lassen.

Sie streifen mehrere Minuten lang durch den Raum und schauten in jede Kiste.
„Er muss doch irgendwo hier sein, da bin ich mir sicher.“, sagte Anja immer wieder. Und immer wieder folgte ein zustimmendes Nicken von Mike.
Nach fast einer halben Stunde sagte dieser schließlich:
„Wir haben jetzt überall geguckt, er ist nicht hier. Lass uns verschwinden, dieser Ort macht dich unglücklich.“ Er legte seine Hand auf ihre Schulter in der Hoffnung sie zur Rückkehr bewegen zu können, doch sie hatte mittlerweile andere Pläne. Ihr Blick war auf ein Buch fixiert, dessen goldener Einband aus einer bereits von Mike durchsuchten Kiste herausragte.
„Was ist das? Das kenne ich nicht.“, sagte sie.
Sie schaute auf das Cover, wo sie aber nur Schriftzeichen einer ihr unbekannten Sprache entdecken konnte. Mike nahm es ihr aus der Hand und sah es sich an. Er versuchte es zu öffnen, doch die einzelnen Seiten waren wie aneinander geleimt.
„Hilf mir es zu öffnen.“, sagte er zu Anja. Sofort nahm sie eine Karte aus einem Kartenspiel vom Boden und steckte sie zwischen die Seiten, in der Hoffnung der Kleber würde sich lösen.
„Funktioniert nicht.“, sagte Mike. „Wir müssen was anderes versuchen.“
Wie im Bann nahm er einen auf dem Boden liegenden Löffel und versuchte das Buch aufzuhebeln. Anja starrte dabei die ganze Zeit auf das Buch, als würde sie einen lupenreinen Diamanten vor sich haben.
Nach einer Minute des Drückens flogen die Seiten des Buches auseinander. Mike, mittlerweile vor Anstrengung keuchend, fiel dabei auf den Boden, stand aber sofort wieder auf als Anja das Buch aufhob und auf die Seiten starrte.
Alle Seiten des Buches waren leer. Stattdessen fing das Buch an in einem blassen Grünton zu leuchten. Das Leuchten wurde stärker, als Anja mit der Hand die aufgeschlagene Seite streichelte.
Als Mike seine Hand auch auf die Seite lag, ließ ein heftiger Windstoß die Dachbodentür zufallen, die Taschenlampe erlosch. Das Licht des Buches erfüllte den ganzen Raum. Mike und Anja erwachten aus ihrer Trance, ließen das Buch fallen und wichen mehrere Schritte zurück. Erst jetzt erkannten sie, was sie die letzten Minuten machten. Beide rannten zur Tür, hämmerten dagegen, wollten sie öffnen, doch sie bewegte sich kein Stück. Wie fest geleimt. Anja rannte panisch zum Fenster, wollte es öffnen, aber auch dieses bewegte sich nicht. Mike versuchte es einzuschlagen, vergebens.
„Was geht hier vor?“, kreischte Anja.
Angsterfüllt griff Mike zu einem herumliegenden Stück Holz und schlug damit auf das Buch ein, und wieder und wieder und wieder. Nach dem siebten Schlag gab er auf, das Buch war unversehrt. Stattdessen fing das Holz an plötzlich auf den Kopf von Mike einzuschlagen. Einmal, zweimal, dreimal,.... Mike stöhnte bei jedem Schlag vor Schmerz, jeder Schlag war heftiger als der vorherige, nach jedem Schlag stöhnte er lauter. Er versuchte das Holz abzuwehren, doch keine Chance, er hatte seine Arme nicht unter Kontrolle und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ebenso Anja. Sie konnte sich nicht bewegen und musste schreiend und mit Tränen in den Augen zusehen, wie Mike nach dem siebten Schlag bluten auf dem Boden zusammenbrach und kein Geräusch mehr von sich gab. Das Stück Holz, dass sein Schicksal besiegelte, fiel auf den Boden und blieb dort liegen.
Anja schluchzte und wollte zum regungslosen Körper ihres Verlobten stürmen, als sie plötzlich von einem heran fliegenden Kerzenständer am Kopf getroffen wurde. Ein Knacken der Knochen und sie blieb regungslos neben ihrem Verlobten am Boden liegen.
Das Licht des Buches erlosch, es schloss sich, die Taschenlampe fing an zu leuchten und ein leichter Windzug öffnete die Tür zum Dachboden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen