Montag, 24. September 2012

Bis zur Endstation

Titel: Bis zur Endstation
Genre: Horror
Beschreibung: Dies ist die Geschichte eines seltsamen Ereignisses, für das bis heute keine Erklärung gefunden wurde. Ich selbst habe keine Idee was es gewesen sein könnte. Ich weiß nur, dass dies der schrecklichste Abend meines Lebens war.

Es war ein dunkler Novemberabend in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Der Himmel war bewölkt und es nieselte leicht, weswegen ich einen Regenschirm bei mir trug. Ich ging zur Bushaltestelle, unser Dorf hatte nur eine. Ich wollte nach Oldenburg fahren um meine Eltern zu besuchen. Meine Mutter hatte letzte Woche Geburtstag gehabt, aber ich hatte keine Zeit vorbeizukommen und ihr zu gratulieren. Das Studium hat viel Zeit in Anspruch genommen.
Wäre ich damals in Oldenburg wohnen geblieben, hätte ich wohl die Zeit dazu gehabt, weil wir ziemlich nahe an der Uni gewohnt haben. Aber ich entschloss mich mit meiner Partnerin Sarah aufs Land zu ziehen, damit wir dort unsere Ruhe hatten. Im Lärm einer Großstadt lässt es sich nicht so leicht lernen. Außerdem ist die Luft hier draußen wesentlich besser, auch wenn der süße Duft nach Rinderfäkalien einen schon mal den Appetit vertreiben kann.
So kam es, dass ich an jedem Tag, an dem ich Vorlesungen habe, mit dem Bus nach Oldenburg und zurück fahren muss. Die Strecke kannte ich mittlerweile auswendig. Um 18.23 Uhr kommt der Bus, den ich diesmal nehmen musste, so dass ich um 19.04 Uhr an der Uni wäre. 7 Minuten früher musste ich aber aussteigen, da ich ja zu meinen Eltern wollte.
Wenn ich morgens mit dem Bus fahre, ist er meistens ziemlich leer. Selten sitzen mehr als 15 Fahrgäste im Bus, weshalb ich davon ausgegangen bin, dass er an dem Abend auch nur wenige Fahrgäste befördern wird.
Ich kam um 18.18 Uhr an der Haltestelle an. Ich bin immer zu früh dran, denn ich hasse es zu spät zu kommen, also wollte ich kein Risiko eingehen. An diesem Tag war ich froh über meine Überpünktlichkeit, da der Bus schon um 18.20 Uhr kam. Hätte ich den verpasst, hätte ich nicht fahren können, da es Sonntag war und dies der letzte Bus für den Tag war. So ist es auf dem Land nunmal.
Ich stieg ein und zeigte dem Fahrer meine Fahrkarte. Es war ein glatzköpfiger, muskulöser Mann mit einer Narbe quer durch sein Gesicht, der hinter dem Steuer saß. Seine Augen waren pechschwarz und hatten etwas unmenschliches an sich. Mit diesem Gesicht hätte er bei Halloween mehr Süßes bekommen als jeder andere. Und mit den Oberarmen hätte er mehr Saures geben können als jeder andere. Es schien ihm aber egal zu sein, ob ich eine Fahrkarte habe oder nicht. Er schaute mich mit einem unfreundlichen Gesicht an und forderte mich durch drehen seines Kopfes auf mich hinzusetzen.
Dieses Verhalten des Busfahrers hat mich überrascht. Weniger die Unfreundlichkeit. Busfahrer lächeln zu sehen ist in etwa so unwahrscheinlich wie ein Bundeskanzler der Piraten. Es war eher die Tatsache, dass es dem Busfahrer nicht im geringsten interessierte, ob ich für die Fahrt bezahle oder nicht. Normalerweise wird an jeder Ecke kontrolliert, ob man einen gültigen Fahrausweis hat. In jedem zweiten Bus sitzt ein Kontrolleur, der jeden, der schwarz fährt, rausschmeißt und zu einer Geldstrafe von 100 Euro verdonnert. Aber heute schien das anders zu sein.
Ich kümmerte mich nicht weiter darum und ging in den Innenraum des Busses. Tatsächlich war der Bus ziemlich leer. Nur vier Personen saßen darin. Auf der hintersten Bank zwei Jugendliche, vorne hinter dem Fahrer eine ältere Dame, und in der Mitte neben der Tür...
„Hallo Hendrik!“
„Ach, hallo Maike! Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet. Wo fährst du hin?“ Ich setzte mich neben sie.
„Zur Weser-Ems Halle. Dort ist heute Abend ein Basketball Länderspiel, für das ich Tickets habe. Und wohin verschlägt es dich?“
„Zu meinen Eltern, meine Mutter hatte letztens Geburtstag und jetzt soll ich zum Abendessen vorbeikommen.“
Maike war eine alte Schulfreundin von mir. Wir machten zusammen Abitur. Sie studiert auf der gleichen Uni wie ich, nur ich hab Mathematik und sie BWL, so dass wir uns selten sehen.
„Und wieso fährst du allein? Wieso fährt deine Freundin nicht mit?“
„Sie hat Nachtdienst, daher muss sie gleich zur Arbeit.“
„Stimmt ja, sie ist ja Polizistin. Muss auch komisch sein, wenn deine Freundin das Geld verdient und du nicht arbeitest, oder?“
„Ach, so schlimm ist es ja nicht. Sie weiß, dass ich durch mein Studium gute Chancen auf eine Anstellung als Lehrer habe. Dann gleicht sich das wieder aus. Außerdem arbeite ich ja noch nebenbei bei REWE. Arbeitest du auch nebenbei?“
„Ja. Seit mein Ex mit mir Schluss gemacht hat, arbeite ich am Wochenende als Kellnerin in einem Café in Oldenburg. Vielleicht willst du mal mit Sarah vorbei kommen. Wir sind berühmt für unsere Sahnetorte!“
„MAUL HALTEN!“
Eine donnernde Stimme hallte durch den Bus. Der Busfahrer hat angehalten und schrie uns von vorne an. Die ältere Dame vorne in der ersten Reihe zuckte vor Schreck zusammen und wäre beinahe vom Sitz gefallen.
„DIES IST EIN BUS UND KEINE KNEIPE! HIER WIRD NICHT GEREDET!“
„Was haben sie für Probleme?“, sagte ich. „Wir dürfen doch wohl reden wenn wir wollen, solange wir keinen belästigen.“
„Lassen sie die jungen Leute in Ruhe oder ich sorge dafür, dass sie gefeuert werden!“, mischte sich auch die ältere Dame ein. Sogar die beiden Jugendlichen ganz hinten, die bisher nur teilnahmslos aus dem Fenster starrten, schauten den Busfahrer verwundert an. „Jetzt fahren Sie weiter, ich muss zu meiner Jogagruppe.“
„Na gut!“, sagte der Busfahrer, „Sie werden schon sehen, was sie davon haben.“
Er setzte sich wieder an Steuer und fuhr weiter.
„Danke.“, sagte ich zur Frau.
„Gern geschehen. Der arme Mann da vorne hat wohl von seiner Mutter nicht oft genug eine Tracht Prügel bekommen, dann kann so etwas schon mal passieren.“
Wir fuhren zwar weiter, aber unsere muntere Konversation von vorhin war beendet. Wir verfielen jetzt ins Schweigen.
Maike starrte aus dem Fenster in den verregneten Abend und schwieg. Ich wollte wieder mit ihr ins Gespräch kommen, aber mir fiel nichts ein, womit ich es beginnen könnte. Während ich mir was überlegte, fielen mir einige Merkwürdigkeiten auf.
Das Erste: Seit wir eingestiegen sind, hat der Bus an keiner anderen Haltestelle gehalten. Es ist keiner eingestiegen und keiner ausgestiegen. Zudem wurden auch keine Ankündigungen der nächsten Haltestellen gemacht, wie es sonst immer gemacht wurde. Auch die Anzeige der nächsten Haltestelle über der Fahrerkabine funktionierte nicht.
Das Zweite: Der Bus war nicht wie die anderen Busse, die sonst diese Strecke fahren. Normalerweise sind es neue Hybridbusse mit drei Türen und einem Notausstieg an der Decke. Dieser Bus hier hatte keinen Notausstieg. Es war auch kein Hybridbus. Es war ein alter, der mit Diesel betrieben wurde.
Das Dritte: Wir fuhren eine völlig andere Strecke! Es war nicht die übliche in Richtung Oldenburg. Dann hätten wir schon längst durch unser Nachbardorf fahren müssen, aber wir fuhren durch einen Wald.
„Irgendwas stimmt hier nicht.“, flüsterte ich Maike zu.
„Was?“
„Sieh dir mal den alten Bus an, er ist ganz anders als die, die hier normalerweise fahren.“
„Vielleicht haben die einen anderen genommen, weil hier so wenig Leute mitfahren?“
Ich beachtete sie nicht. „Die Haltestellenanzeige funktioniert nicht. Es kommen keine Durchsagen.“
„Wie du schon sagtest, der Bus ist alt...“
Ich schaute mich genauer im Bus um. Jetzt erst fiel mir auf, dass gar keine Haltewunschtasten im Bus angebracht waren.
„Keine Stop-Knöpfe! Und wir fahren eine ganz andere Strecke!“, sagte ich diesmal lauter, so dass die anderen Fahrgäste es auch mitbekamen.
„Bist du sicher? Es ist dunkel draußen, vielleicht...“
Ich stand auf und ging zum Busfahrer.
„Wo sind wir?“, fragte ich.
Er ignorierte meine Frage, als ob er mich nicht wahrnehmen würde, und starrte auf die nur von den schwachen Busscheinwerfern beleuchtete Straße.
„Wo fahren sie uns hin?“
„Zur Endstation.“, sagte er mit einer kalten, gefühllosen Stimme, die perfekt zu seinen Augen passte.
„Lassen sie uns raus!“, forderte ich ihn auf.
Er fing aber nur an zu grinsen und sagte: „Keiner verlässt den Bus vorzeitig.“
Mich ergriff Panik. Ich drehte mich zu den anderen Fahrgästen um. Sie starrten mich angsterfüllt an. Sie haben auch gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt.
„WIR MÜSSEN RAUS!“, schrie ich.
Der eine Junge in der hinteren Reihe reagierte sofort und griff zum Nothammer. Er schlug mit voller Wucht gegen die Scheibe, aber diese blieb unversehrt. Stattdessen fing der Junge an, am ganzen Körper heftig zu zittern, stürzte auf den Boden und blieb dort regungslos mit geschlossenen Augen liegen.
„LUKAS!“, schrie sein Begleiter.
Auch Maike und die alte Frau schrien auf.
Ich drehte mich wieder zum Busfahrer.
„Was haben sie gemacht?“
Er grinste immer noch.
„Keiner verlässt den Bus vorzeitig.“ wiederholte er langsam und in einem ruhigen aber befehlenden Ton. „Alle fahren bis zur Endstation.“
Wäre sie Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich wieder auf meinen Platz gesetzt, so dominant war seine Stimme. Aber ich ergriff den Feuerlöscher, der neben der Eingangstür hing und schlug auf seinen Kopf ein.
Der erhoffte Schmerzensschrei und die darauf folgende Ohnmacht des Fahrers blieben aus. Stattdessen drehte er seinen Kopf in meine Richtung und sah mich mit dem gleichen genervten Blick an wie beim Einsteigen. Er stand auf und ich erschrak. Er war mindestens 2.30 Meter groß. Er öffnete die Tür der Fahrerkabine und trat hinaus. Da mir nichts besseres einfiel und ich keine Waffen bei mir hatte, bin ich zurück gegangen und habe mich auf meinen Platz gesetzt.
Der Fahrer ging den Mittelgang entlang, während der Bus von alleine weiterfuhr. Die alte Dame, an der er zuerst vorbeikam, fasste sich vor Angst an die Brust, als würde sie einen Infarkt bekommen und schrie kurz auf. Der Mann lies sich aber nicht beirren und ging weiter. Währenddessen fixierte er mit seinen Kohleaugen Maike. Als er kurz vor unserer Sitzreihe war, fiel mir der Regenschirm ein, der neben mir auf dem Boden lag. Wenn er vor uns stehen bleibt, würde ich ihn den in den Bauch rammen. Über die Wirkung des Angriffs wollte ich nicht nachdenken und hoffte einfach das Beste. Aber er blieb nicht stehen sondern ging weiter nach hinten. Genau auf Lukas, den Jungen, der bewusstlos am Boden lag, zu. Sein Freund kniete neben ihn. Das Entsetzen lag in seinem Gesicht.
Der Fahrer blieb vor den Beiden stehen und hob Lukas hoch und legte ihn über seine Schulter. Danach ging er zurück nach vorne, während der andere Junge auf dem Boden zurück blieb.
Vor der hinteren Tür blieb der Busfahrer stehen. Genau in dem Moment blieb auch der Bus stehen. Ich schaute aus dem Fenster. Wir waren irgendwie von der Straße abgekommen und standen mitten im Wald, von Bäumen umzingelt. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war immer noch bewölkt. Mit Ausnahme der Busscheinwerfer und dem Licht der Lampen im Bus, das durch die Fenster nach draußen schien und die Silhouetten der Bäume zeichnete, war es stockfinster.
Die Tür öffnete sich. Der Fahrer sagte mit der gleichen, ruhigen Stimme: „Sie kommen euch gleich holen. Es dauert nicht lange, dann ist alles vorbei.“                            
Er trat aus dem Bus, mit Lukas auf der Schulter, ging in den Wald hinein, die Tür schloss sich hinter ihm, und sie verschwanden in der Dunkelheit. Als sie nicht mehr zu sehen waren, erloschen auch alle Lichter im und am Bus.
Wir waren eingesperrt, konnten nichts sehen und wussten nicht was passiert. Ich hatte richtig Panik. Ich wollte einfach nur schreien, aber der Schock hat scheinbar meine Stimme gelähmt. Ich hörte Maike neben mir schwer atmen. Auch sie hatte Angst. In der vordersten Reihe fing die ältere Dame an zu sprechen: „Und was machen wir jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“, sagte ich mehr schlecht als recht, während hinter mir plötzlich ein Licht an ging.
Es war der andere Junge. Er hatte eine Taschenlampe dabei.
„So können wir wenigstens sehen, was auf uns zu kommt.“, sagte er mit zittriger Stimme.
„Immerhin etwas.“, sagte ich. „Aber wie kommen wir hier raus?“
Ich stand auf und ging durch den Bus, während sich die ältere Dame zu Maike setzte, die offenbar einen Schock hatte und versuchte sie zu beruhigen.
Ich überlegte mir, wie wir raus kommen könnten. Ich blieb vor der Tür stehen. Unter der Tür fehlte ein Teil der Dichtung.
Ich ging zurück und holte den Regenschirm.
„Junge, wie heißt du?“
„Robin.“
„Robin, hilf mir die Tür aufzubrechen.“
Ich steckte die Spitze des Schirms in die Öffnung und bewegte sie entlang der Dichtung zwischen die Türen. Dann drückten wir gemeinsam gegen den Schirm. Wir konnten tatsächlich die Tür einen Spalt öffnen. Dieser war groß genug, dass wir durch gehen konnten.
Ich rief die alte Dame und Maike, dass sie durch die Tür gehen sollen. Danach ging Robin und zum Schluss Ich.
Als alle draußen waren, gingen wir auf die andere Seite des Busses und liefen in die dem Busfahrer entgegengesetzte Richtung. Robin und Ich mit der Taschenlampe voran und dahinter Maike und die ältere Dame. Sie war nicht mehr die Schnellste, daher kamen wir nur langsam voran.
Wir sprachen nicht. Wir hatten zu viel Angst, dass die, von denen der Fahrer gesprochen hat, uns hören könnten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber wahrscheinlich nicht länger als 20 Minuten war, erlosch das Licht der Taschenlampe.
Wir standen in einer mondlosen Nacht mitten im Wald, ohne Licht.
„Hat jemand ein Feuerzeug?“, fragte ich in die Runde, aber bekam nur ein leises und erschöpftes „Nein“, der alten Frau als Antwort.
Wir wussten nicht weiter und blieben einfach stehen. Panik ergriff mich wieder. Wie sollten wir da raus kommen?
Ich konnte nicht lange nachdenken. Hinter mir hörte ich plötzlich ein Rascheln, schnelle Schritte die auf uns zu kommen und zum Schluss der Todesschrei der Frau.
Meine Gedanken waren verflogen, Ich lief einfach los und die anderen beiden taten scheinbar das Gleiche, denn Ich konnte ihre Schritte hören, aber nach kurzer Zeit waren auch diese verstummt. Sie liefen in eine andere Richtung. Oder... hoffentlich nicht.
Ich konnte nicht sehen wohin Ich lief. Ich hatte die Wahl gegen einen Baum zu laufen oder von dem Ding getötet zu werden. Ich lief im Zick-Zack und zu meiner Überraschung stieß Ich mit keinem Baum direkt zusammen. Ich haute ein paar mal mit dem Arm gegen einen Stamm und stolperte einmal über einen Ast am Boden. Aber Ich lief weiter und kam, komplett außer Atem und erschöpft, am Rand eines Feldes an, an dessen Ende die Lichter eines Dorfes leuchteten. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und rannte über das Feld. Ich klingelte an der erst besten Tür, wurde eingelassen und war in Sicherheit.

Die Familie, die mich eingelassen hat, konnte meine Geschichte nicht glauben. Aber sie konnten mir auch nicht nicht glauben, da sie keine bessere Erklärung wussten, wieso ich sonst spät abends panisch aus einem Wald gerannt komme.
Die Polizei glaubte mir meine Geschichte hingegen. Die sagten, dies wäre nicht der erste Fall dieser Art. Allerdings war ich der Erste, der überlebt hat. Bisher hatte man nur Vermisstenmeldungen und Zeugenaussagen, dass diese Personen in einen Bus gestiegen sind.
Allerdings konnte der Bus, der Fahrer und „Sie“ nie gefunden werden. Ebenso wenig die Leichen von Lukas, Maike und der älteren Dame. Zumindest ging keiner davon aus, dass sie noch am Leben waren.
Robin wurde am nächsten Morgen von einem Wanderer mit gebrochenem Fuß in einem Bachbett liegend gefunden. Er war stark unterkühlt, stand unter Schock aber er hat überlebt.
Er wird diesen Abend immer im Gedächtnis haben. Genau wie ich.


Dienstag, 18. September 2012

Aber nicht wieder schwänzen, ja?

Titel: Aber nicht wieder schwänzen, ja?
Genre: Kurzgeschichte
Beschreibung: Ein Ereignis in der Berliner U-Bahn

„Aber nicht wieder schwänzen, ja?“
Sein gleichaltriger Freund steigt aus der U-Bahn und lässt den Jungen allein zurück.
Ich sitze in einer U-Bahn in Berlin Richtung Alexanderplatz. Der Junge, von dem ich spreche, ist etwa 12 Jahre alt. Er hat dunkle Haare und eine zierliche Statur. Seine schwere Tasche verrät, dass er gerade aus der Schule kommt. Sein Freund, der gerade ausgestiegen ist, winkt ihm noch zum Abschied zu. Der Junge hat ihn aber bereits aus seinem Fokus verloren. Er setzt sich auf einen freien Einzelplatz auf die rechte Seite und kramt in seiner Schultasche, holt „Prince of Denmark“ heraus, stellt die Tasche auf den Boden vor seinen Sitz und fängt an zu lesen.
Ich sitze zwei Reihen hinter ihm in der Bahn. Sie ist für die Verhältnisse eines Dienstag Nachmittags ziemlich leer. Die anwesenden Personen sind meist allein unterwegs, daher hat der Junge die Ruhe um Lesen.

Zwei Stationen später steigt eine Frau in den Zug. Sie setzt sich auf den Stuhl zwischen den Jungen und mich. Der Junge und niemand anderes nimmt Notiz davon, dass die Frau eingestiegen ist.
Sie ist etwa 40 Jahre alt, hat rote, leicht angegraute Haare. Als die Bahn sich wieder in Bewegung setzt, beugt sich die Frau nach vorne und schaut den Jungen über die Schulter.
„Was ließt du denn da, mein Junge?“, fragt die Frau.
Der Junge dreht seinen Kopf und erschrickt, als er den Kopf der Frau über seiner Schulter bemerkt.
„Ha- Hamlet.“, stottert er.
„Wirklich? So ein anspruchsvolles Buch in deinem Alter?“ Sie schaut in das Buch. „Und dann auch noch auf Englisch! Was machen denn die Lehrer mit euch, sag mal?“
Der Junge zuckt mit den Schultern. „Das ist ganz normal. Glaube ich.“
„Glaube ich nicht!“, widerspricht ihm die Frau, „Das ist nicht normal. Wenn du mein Sohn wärst, müsstest du das nicht lesen. Wie ist eigentlich dein Name?“
„Janis. Und wieso müssen Ihre Kinder das Buch nicht lesen?“
„Ich habe leider keine Kinder. Aber wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht auf die Schule schicken. Was man dort lernt, braucht man im wahren Leben sowieso nicht. Ich habe es auch ohne Schulabschluss zu einem sehr guten Leben geschafft. Oder wie siehst du das, Janis?“
Er klappt das Buch zu. „Einige Dinge sind wirklich nutzlos. Wozu muss man Punktspiegelung können?“
„Genau das meine ich!“ Die Stimme der Frau klingt fast schon euphorisch.
„Ja, aber leider sind meine Eltern nicht so cool wie Sie. Die wollen sogar, dass ich noch extra Unterricht nehme, weil meine Noten angeblich zu schlecht sind.“
„Wirklich? Dann haben deine Eltern dich aber nicht lieb.“
„Naja, so würde ich das nicht sagen.“
„Ich schon. Was hältst du davon, wenn Du bei mir wohnst. Ich würde dir dann zuhause alles beibringen, was du für das wahre Leben wissen musst. Keine Spiegelungen, kein Shakespeare! Ich muss an der nächsten Station raus, dann kannst du mitkommen, wir rufen deine Eltern an, damit sie sich keine Sorge machen. Wir können uns ja eine Pizza mitnehmen, damit wir beim Lernen was im Magen haben. Was meinst du?“
Der Junge schaut der Frau jetzt das erste Mal richtig ins Gesicht, so dass ich seines das erste Mal richtig sehen kann.
In seinem Blick liegt Verwunderung, aber auch Freude.
„Meinen sie das im Ernst? Ich bei Ihnen Wohnen, Pizza, keine Schule?“
„Natürlich. Ich habe ja selbst keine Kinder. Du kannst mich übrigens Hanne nennen.“
„Okay, Hanne, aber wir rufen meine Eltern an?“
„Natürlich. Ich werde ihnen alles erklären, dass du überfordert bist und diesen Müll sowieso nicht brauchst, dann werden sie einverstanden sein.“
Der Junge zögert und schaut die Frau weiter an, während die Bahn langsamer wird.
Als sie zum Stillstand kommt und sich die Türen öffnen, steht die Frau auf und hält ihm seine Hand hin.
„Und? Ja oder Nein?“
Der Junge nimmt ihre Hand, steht auf, und sie verlassen gemeinsam den Zug.
Als die Türen sich schließen hat keiner im Zug den Handschlag gesehen. Die einsame Schultasche fällt nicht auf.