Sonntag, 10. November 2013

Unsichtbare Schreie Teil 4

"Guten Morgen Konsi." Ich trat an ihn heran.
"Oh, guten Morgen Stefan. Was ist los, hast du auch verpennt."
"Nein. Aber schön wär's. Dann wäre ich nicht umsonst aufgestanden."
"Ist es denn schlimm, wenn du um 6 Uhr aufsteht, damit du um 8 in der Chemievorlesung sitzen kannst?" Er grinste mich an. "Ne im Ernst, ich schlaf auch lieber aus. Also, warum bist du umsonst aufgestanden?"
"Erzähl ich dir später an der Uni."
"Warum? Willst du schweigen bis die U-Bahn kommt?"
"Nicht wirklich, aber das muss nicht jeder hören, sonst versteht es noch jemand falsch."
"Komm schon, wir sind in Bochum. Wer hört dir hier zu?"
Ich zögerte. "Okay. Also, ich bin ganz normal früh aufgestanden. Habe den Bus genommen, den ich sonst auch nehme und erwische entsprechend auch den Zug, der mich überpünktlich in Bochum absetzt. Aber es kam, wie so häufig der Fall ist, zu einem Zwischenfall kurz vor Essen Hbf."
"Baum auf dem Gleis? Bombenentschärfung?", fragte Konsi.
"Nein, schlimmer. Selbstmörder."
"Oh, schon wieder?"
"Ja. Ich mein, wenn die unbedingt ihr Leben beenden wollen, von mir aus. Aber sollen sie sich doch irgendwo aufhängen. Dort, wo sie keinen anderen belästigen. Aber nein, er stellt sich ausgerechnet auf die Gleise, wenn mein Zug gerade vorbeifahren will."
"Kann ich verstehen, dass dich das nervt. Konnte der Typ rechtzeitig von den Gleisen geholt werden, bevor er überfahren wird?"
"Keine Ahnung. Der Zug hat jedenfalls über eine halbe Stunde gehalten, also denke ich schon, dass er runtergezerrt wurde. Ich hätte es auch eigenhändig gemacht, wenn man mich gefragt hätte.
Naja, es ist einfach schlimm, wenn du um 6 aufstehst, um dann eine Durchsage zu hören, dass du zu spät kommen wirst, weil du gefühlte 3 Stunden in einem stehenden überfüllten Zug sitzen musst."
"Wenigstens bist du jetzt hier. Ist ja auch egal, ob wir 15 Minuten zu spät sind. Juckt die Dozenten eh nicht."

Nach 3 Minuten fuhr die U-Bahn vor und wir stiegen ein. Wie üblich war sie überfüllt, so dass wir im Eingangsbereich stehen bleiben mussten.
"Also vorhin im ICE hat es mir besser gefallen.", sagte Konsi, während er sich im Wagon erfolglos nach einen freien Sitzplatz umschaute.
"Wieso ICE?", fragte ich.
"Bin doch leider etwas zu spät aufgestanden. Entsprechend war mein Zug weg, als ich am Bahnhof ankam. Auf der Anzeige stand aber immer noch, dass der nächste Zug der Regionalexpress ist. Also bin ich auch in den nächsten Zug eingestiegen. War aber anscheinend ein ICE."
"Ist ja auch nicht so, dass sich die Dinger von den normalen Zügen unterscheiden."
"Nein.", lachte er, "Dachte wenn die Bahn mal wieder einen kaputten Zug hat, lässt sie auch einen ICE auf einer Regionalstrecke fahren. Im Nachhinein betrachtet schon ein wenig blöd von mir. Aber sehr bequeme Sitze."
Nun lachte auch ich. "Und wie viel Strafe musst du bezahlen?"
"Das ist das Beste: Garnichts!"
"Hä? Haben die keine Kontrolleure?"
"Doch aber er hat mich eiskalt übersehen."
"Super, überhaupt nicht unfair. Ich darf auf wegen eines missglückten Selbstmörders warten, und du darfst umsonst ICE fahren."
"Und länger schlafen.", fügte er mit einem Grinsen hinzu. "Aber keine Sorge. Irgendwann gleicht sich das Leben wieder aus."

5 Stationen später machte der Fahrer der U-Bahn eine Durchsage:
"Sehr geehrte Fahrgäste. Wegen eines defekten Triebwagens vor uns müssen wir die Fahrt leider wir wenige Minuten unterbrechen. Vielen Dank für ihr Verständnis."
"Nein...", stöhnte ich und schüttelte den Kopf.
"Nicht verzweifeln,", sagte Konsi, "es geht doch gleich weiter."
"Schön wär's. Eine Station vor der Uni nochmal zu warten, muss wirklich nicht sein."
Ich schaute mich im Wagon um und sah ähnliche Reaktionen. Studenten, die ungeduldig auf die Uhr oder aus dem Fenster schauten. Beschwerden über die Unzuverlässigkeit von Bus und Bahn. Aber auch gleichgültige Reaktionen. Menschen mit zu lauten Kopfhörern, aus denen Avici und Aloe Blacc drangen. Eine Frau, die verzweifelt versuchte ihr Baby ruhigzustellen. Andere, die ungestört von Musik und Geschrei eine Zeitung lasen.
Zur Zufriedenheit der meisten Fahrgäste setzte die Bahn wie versprochen ihre Fahrt nach wenigen Minuten fort, so dass sie zwei Minuten darauf die Universität erreichte.

Als wir im Hörsaal für Chemie ankamen, war die Vorlesung zur Hälfte vorbei. Zu unserer Überraschung schienen recht wenige die Überwindung gehabt zu haben, früh aufzustehen. Gerade mal 30 Leute saßen, meist in den hinteren Reihen, um dort, so schien es, ein wenig Schlaf nachzuholen.
Wir gingen in die Mitte des Hörsaals, wo Timo und Pascal saßen, ohne dass Herr Gemel uns, oder die Schläfer der letzten Reihe, beachtete.
"Guten Morgen.", sagte Timo, "Wo wart ihr?"
"Erzählen wir euch später.", antwortete ich, "War irgendwas wichtiges?"
"Nein, nur Wiederholung von den Quantenzahlen. Was wir letztes Mal schon angefangen hatten.", sagte Pascal.
Dabei blieb es auch. Die nächsten 10 Minuten genau das, was am Tag zuvor besprochen wurde, sowie vor 2 Jahren in der Schule, nur nochmal vertieft. Ich konnte den nicht anwesenden keinen Vorwurf machen. Jede Minute die verging, entfernte ich mich in meinen Gedanken weiter von diesem Hörsaal. Wünschte mir, dass mein Wecker nie geklingelt hätte, und überlegte, ob man die beiden Freistunden, die auf diese Einzelstunde folgten, zum Schlafen nutzen könnte.
Dann riss das Klingeln eines Handys mich und fast alle anderen aus den Tagträumen. Reflexartig griff ich in die Hosentasche, um das Handy auszumachen. Andere taten es mir gleich. Doch Herr Gemel machte kein Geheimnis daraus, dass es sein Klingelton war, und nahm den Anruf an.
Gemurmel und leises Lachen kam auf im Hörsaal. Ich konnte Gesprächsfetzen wie "Das habe ich aber noch nie gesehen." oder "Ob er auch so reagiert, wenn wir telefonieren?" aufschnappen. Nach einigen Sekunden unterbrach Herr Gemel das Gemurmel und teilte mit, dass er den Saal kurz verlassen müsse. Er stieg die Treppen herauf und verschwand, ließ Laptop und Notizen zurück, um zu zeigen, dass auch wir bleiben sollen.
Wir nutzten die Gelegenheit, um Pascal und Timo über die Ereignisse des Morgens zu informieren und ernteten Gelächter, sowie Mitleid und Glückwünsche zum erfolgreichen Schwarzfahren.
Währenddessen leerte sich der Hörsaal weiter. Herr Gemel blieb weg.
10 Minuten vor dem regulären Schluss der Vorlesung, wir vier waren mittlerweile als Einzige übrig, entschieden auch wir zu gehen. Wir packten alle unsere Sachen ein und gingen hoch zur Tür.
"Können wir seine Sachen hier alleine lassen?", fragte Timo und deutete auf den Laptop unten an der Tafel.
"Denke schon.", antwortete Konsi, "Alle Hörsäle sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Hier klaut niemand. Und wenn doch, wäre er schön blöd."
Pascal erreichte als erster die Tür, drückte die Klinke runter. Aber die Tür bewegte sich nicht.
"Drücken.", sagte ich.
"Mach ich doch.", antwortete Pascal, "Aber sie bewegt sich nicht.
"Gib mal her." Konsi nahm die Klinke, aber auch er scheiterte. "Verdammte Scheiße, hat jemand die Tür versperrt? Mal die andere Tür versuchen."
Auf dem Weg zur anderen Seite des Hörsaals gingen die Lichter aus. Auch der Beamer stellte seinen Betrieb ein. In dem fensterlosen Raum war der Laptop die einzige Lichtquelle. Diese hatte kaum Auswirkung auf unsere Seite, die andere Seite des Raumes, also holten wir unsere Smartphones heraus.
"Wieso ist jetzt der Strom weg?", fragte Pascal.
"Vielleicht die Sicherung.", antwortete Konsi, "Kann sein, dass die im Nebenraum einen Kurzschluss..."
Er wurde von einem lauten Schrei unterbrochen, der von der anderen Seite der Tür hinter uns kam. Deutlich hörbar, die Stimme eines Mädchens, das in Todesangst schreit.
Wir rannten zur anderen Tür, wollten nachsehen, dem Kind helfen. Bevor wir die Tür erreichen konnten, fiel Pascal vornherüber, riss beinahe Konsi mit und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. An seinem Hals sahen wir etwas rot glühendes Hängen. Erst nach Sekunden, in denen wir dachten, er steht sofort wieder auf, realisierten wir, was dies für ein Objekt war: Eine Gabel, eine glühende Gabel.
Der Geruch nach verbrannter Haut war wahrzunehmen und anstelle des Schreis hörten wir nun das Geräusch von Fleisch auf dem Grill. Nur war es kein Steak, es war Pascal. Sein Fleisch, sein Knochenmark.
Wir versuchten noch die Gabel zu entfernen. Um uns nicht zu verbrennen, fassten wir sie nur mit unseren Schuhen an. Aber als es uns nach bangen Sekunden gelang, war es zu spät. Pascal war tot, seine Wirbelsäule durchtrennt von einer Gabel wie Lava. Aus dem Loch in seinem Hals floss kein Blut. Auch sonst sah sein Körper, obwohl er vor weniger als einer Minute noch normal war, aus wie eine Figur von Madame Tussaud's. Ich versuchte noch den Notarzt zu rufen, doch im Hörsaal war kein Empfang.
Der Schock über dieses plötzliche Ereignis saß so tief, dass wir uns nicht von der Stelle rührten. Die Frage nach dem Wie und Warum interessierte nicht. Wir standen nur da, und schauten auf den toten Körper auf dem Boden, bis uns ein weiterer Schrei aufweckte. Dieser kam diesmal von unten. Aus dem Vorbereitungsraum, zu dem eine Tür am unteren Ende des Hörsaals führt. Es war kein Schrei eines Mädchens, es war die Stimme von Pascal. Unmöglich, wir konnten unseren toten Freund vor uns liegen sehen. Dennoch rannte Timo die Treppen herunter, rief seinen Namen und rüttelte an der Tür. Sie öffnete sich nicht.
"Nein Timo, er ist es nicht. Komm hoch, wir müssen hier raus.", rief Konsi. Obwohl seine Stimme nicht wirklich überzeugend war, schien er eine Gefahr erkannt zu haben. Der Stromausfall, der Schrei, der plötzliche Tod von Pascal durch eine glühende Gabel. Dinge, die sich nicht erklären lassen. Ein weiterer Schrei. Innerhalb von Minuten wandelte sich die Welt.
Timo reagierte nicht auf die Rufe, er rüttelte weiter an der Tür. Der Schrei war inzwischen verstummt. Sekunden vergingen, in denen Konsi und ich versuchten, Ordnung in das Geschehen zu bringen. Doch dann gelang es Timo, die Tür zu öffnen und es schien für einen Moment so, als würden wir aus einen Alptraum erwachen. Timo betrat den Raum, wir anderen rannten hinunter zu ihm, zum möglichen Ausgang. Bevor wir den letzten Treppenansatz erreichen konnten, trat Timo wieder in den Hörsaal. Rückwärts, einen Schritt, noch einen. Dann fiel er um, wie Pascal Augenblicke zuvor. Ein letztes leises Stöhnen und dann Stille. Wir blieben auf der Treppe, Meter von ihm entfernt, stehen und sahen im schwachen Licht des Notebooks, wie der Kopf von Timo in einem unnatürlichen Winkel vom Körper weg zeigte, durchbohrt von einem länglichen Gegenstand, der an beiden Seiten mehrere Zentimeter aus dem Schädel ragte.
Jetzt realisierten wir und reagierten so schnell wir konnten. Konsi schloss die Tür zum Vorbereitungsraum, als ein weiterer Schrei, diesmal wieder ein Mädchen, aus dem Nebenraum drang, und versperrte sie mit einem Besenstiel so gut er konnte. Daraufhin rannten wir auf die andere Seite des Raumes, zur anderen Treppe, die zum letzten potentiellen Ausweg führte. Konsi war schneller, überholte mich, als ich die erste Treppe erreichte und stürmte vorbei. Ich versuchte dran zu bleiben, doch stolperte in der Dunkelheit und stieß mir dem Kopf an der Kante. Für einem Moment blieb ich benommen liegen. Bis ein weiter Schrei ertönte. Vor mir. Leiser. Konsi. Ich hörte ihn stürzen, ein paar Treppen herunterrutschen, und dann stumm liegen bleiben.
Es war kein Blick nötig, um zu erkennen. Es war vorbei. Auch für mich. Irgendetwas ist hier, es hat drei Menschen getötet und ich bin der Nächste. Zu rennen ist sinnlos, alle Auswege sind versperrt. Ich blieb auf der Treppe liegen, schloss meine Augen, während Blut aus der Wunde an meinen Kopf tropfte, und wartete auf einen hoffentlich schnellen und schmerzlosen Tod. Einen Schrei, der ihn ankündigt, der die letzten Sekunden zur Hölle werden lässt. Ich wartete, kein Schrei. Trügerische Ruhe. Dann waren Schritte zu hören, die von oben kamen, von der Eingangstür. Meinen baldigen Mörder trennten noch 15, vielleicht 20 Schritte von deinem nächsten Opfer. Er blieb kurz stehen, schaute sich noch mal um. Wahrscheinlich um sich das Bild einzuprägen, wie ich wehrlos da liege.
Er betrat die Treppe, einen Schritt, noch einen, langsam stieg er herab.
Die Sekunden vor dem Ende schwirrten mir die Geschehnisse des Morgens durch den Kopf.
Hätte der Wecker nicht geklingelt, wäre ich nicht hier, würde ich zuhause im Bett liegen, oder schon am Frühstückstisch sitzen.
(Schritte)
Der Selbstmörder auf den Gleisen würde mir morgen oder übermorgen in der Zeitung begegnen. Der wartende Zug wäre leerer gewesen.
(Schnelle Schritte)
Das ist die Essenz, wegen der man lebt. Die einfachen Dinge genießen. Hin und wieder ausschlafen können, Stressfrei durch den Pendelverkehr kommen, ohne Unterbrechungen.
(Noch schnellere Schritte)
Wake me up when it's all over... Es ist vorbei. Es gibt kein Aufwachen mehr. Kein Ausschlafen, nur Schlaf, für immer.
(Ein letzter Schritt)
Nun stand er direkt vor mir. Ich spürte seinen Fuß an meinem Kopf und rechnete nun mit einem Schmerz. Doch das nächste, was meine betäubten Sinne wahrnahmen, war eine Stimme.
"Stefan, alles in Ordnung? Was ist passiert, bist du verletzt?"
Das kann nicht sein, dachte ich.
Er bückte sich und klopfte mir auf die Schulter.
"Was ist los? Komm, steh auf!"
Obwohl ich meinen Ohren nicht traute, hob ich meinen Kopf und schaute der Person ins Gesicht, zu der auch die Stimme passte: Herr Gemel.
Ich brachte keinen Ton heraus. Wo kam er her? Wieso ist das Licht wieder an? Um mich umzusehen, richtete ich mich in eine bequemere Position auf und schaute, auf den Knien hockend, hinter Herr Gemel und sag zu meiner Überraschung keine Leichte von Konsi. Auch die Wunde an meinem Kopf war verschwunden.
"Du scheinst ja unverletzt zu sein, obwohl du ziemlich blass bist", sagte Herr Gemel, "aber wieso liegst du hier rum?"
"Wo sind die anderen?", fragte ich, ohne auf seine Frage zu reagieren.
"Sag du es mir. Wahrscheinlich sind gegangen, als ich nicht zurückkam."
Ich stand auf und schaute mich um. Auch die Leichen von Timo und Pascal sind verschwunden. Der Besen steht in der normalen Ecke und nirgendwo ist eine Gabel zu sehen.
Meine Beine zitterten, also setzte ich mich auf den nächsten Sitz.
"Wo waren Sie die ganze Zeit?", fragte ich.
"An meinem Auto, jemand ist mir hinten rein gefahren." Ich reagierte nicht. "Geht es dir wirklich gut?"

Was passierte, warum ich auf der Treppe lag, verschwieg ich, und schob mein krankes Aussehen auf eine Grippe. Herr Gemel begleitete mich nach draußen. Vor dem Hörsaal ging alles seinen gewohnten Gang. Niemand schien etwas gesehen oder gehört zu haben. Alles war normal.
Wir gingen zusammen bis zum U-Bahnhof, redeten kaum miteinander, warum auch? Nur als er vor dem Hörsaalgebäude über eine kleine Säge stolperte und sich beschwerte, dass sowas hier nichts zu suchen habe, schaute ich ihn kurz an. Als die U-Bahn kam, verabschiedeten wir uns und er wünschte mir gute Besserung. Ansonsten blieb ich in meinen Gedanken versunken.
Über das, was ich erlebte, verlor ich nie mehr ein Wort. Konsi, Timo und Pascal tauchten nie wieder auf. Sie waren verschwunden.


Montag, 8. Juli 2013

Lötkolben

“Ich frage Sie ein letztes Mal:”, sage ich, “haben Sie den Mann ermordet?”
Dieses Spiel ging bereits seit Stunden. Immer wieder löcherten wir den Verdächtigen mit Fragen. Immer wieder hat er uns eiskalt ignoriert oder in einer Sprache beantwortet, die meine Kollegin und ich nicht beherrschten. Einen Dolmetscher konnten wir zu solch später Stunde nicht mehr erreichen, also mussten wir ihn weiter ausquetschen.
Der Mann ist etwa 40 Jahre alt und stammt seinem Aussehen zu Folge aus Indien. Er ist am frühen Morgen dabei beobachtet worden, wie er einen Mann brutal umgebracht hatte.

Es war etwa 3 Uhr am frühen Sonntag morgen als das Opfer, offenbar angetrunken, auf dem Weg nach Hause durch die Innenstadt von Recklinghausen. Eine Zeugin, eine Frau Mitte 20, lief in einigen Metern Distanz hinter ihm her. Sie war auf dem Rückweg von einer Geburtstagsfeier, hatte etwas getrunken und war mit den Gedanken woanders, daher sind die folgenden Beschreibungen unsicher und Lückenhaft.
Am Marktplatz blieb der Mann stehen, wartete einige Sekunden und drehte sich zur Seite um. Von dort kam eine Stimme, der Mann antwortete brüllend und lief in die Gasse aus der die Stimme kam, während die Zeugin in die andere Richtung abbog. Hinter sich hörte sie in den folgenden Minuten mehrfach Männerstimmen auf einer fremden Sprache rufen. Mal lauter, mal leiser. Mal näher, mal weiter entfernt. Die Quellen der Stimmen konnte die Zeugin nicht ausmachen.
Am Busbahnhof, am anderen Ende der Innenstadt, traf die Zeugin erneut auf das Opfer. Er war wieder allein unterwegs, saß stocksteif auf der Bank und blickte in die Nacht hinein. Über mehrere Minuten bewegte er sich keinen Zentimeter, selbst als es anfing zu regnen nicht.
Als unsere Zeugin in ihren Bus stieg, kam gerade ein anderer Mann zum Bussteig des Opfers, das nicht reagierte. Dieser Mann wurde später als Tatverdächtiger identifiziert.

Zehn Minuten danach wurden beide Männer zusammen von einem anderen Zeugen am Marktplatz beobachtet. Sie saßen auf dem Boden, redeten leide miteinander.
Als der zweite Zeuge den Platz verließ, hörte er hinter sich einen Schrei, den er aber keinem der beiden Männer zuordnete, sondern eine Frau. Er kehrte zurück, stellte fest, dass beide Männer verschwunden sind. Nirgends war eine Frau zu sehen.

Gegen 4 Uhr morgens beobachtete ein dritter Zeuge am Busbahnhof einen Streit zwischen dem Opfer und dem Tatverdächtigen. Mehrere weitere Passanten waren anwesend, ignorierten den Streit aber. Es soll nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen sein.

Um halb fünf kam es zum Mord auf dem Rathausplatz. Ein Passant, der sich zur Zeit des Verbrechens in der Nähe befand, hörte vom Rathausplatz seltsame Geräusche und Schreie. Er reagierte schnell und eilte zum Platz. Dabei kam ihn der Inder entgegengerannt, mit einem Messer in der Hand und nacktem Oberkörper.
Als der Zeuge in Sichtweite des Rathausplatzes kam, bemerkte er die Leiche des Mannes am Brunnen liegen. Seine Kehle war aufgeschnitten, der Oberkörper hatte mehrere tiefe Stichwunden und das linke Bein war zur Hälfte abgetrennt.

Nach einem Aufruf der Polizei Recklinghausen über soziale Netzwerke konnten die anderen Zeugen ermittelt werden. Am Abend wurde der Verdächtige am Marktplatz aufgefunden und zur Befragung ins Präsidium gebracht. Er war mit einer Frau unterwegs.

Nun ist es fast Mitternacht. Seit 5 Stunden stellen wir Fragen. Ohne Antwort. Der Mann will weder zugeben, dass er der Täter ist, noch dass er unschuldig ist.

“Was machen wir mit ihm?”, fragt meine Kollegin außerhalb des Verhörraumes.
“Wenn er nicht redet, nützt er uns nichts.”, sage ich. “Wir haben keine Beweise, dass er wirklich der Mörder ist. Die Zeugenaussagen belegen zwar, dass er mit dem Opfer unterwegs war, aber mehr nicht.”
“Was ist mit der Tatwaffe? Wurde diese bereits gefunden?”
“Ich habe vor einer Stunde telefoniert. Nein, die Suche in der Nähe des Tatorts hat nichts ergeben. Es gibt auch keine Spuren an der Leiche, die unseren Kumpel hier belasten würden.”
Kurzes Schweigen.
“Ich glaube, wir müssen ihn gehen lassen, bis wir den Wohnungsdurchsuchungsbeschluss haben.”, sage ich. Ich sah meiner Kollegin an, dass sie enttäuscht war.
“Gut.”, sagte sie. “Ich werde ihn herausführen.”
“Und ich werde nochmals telefonieren.”
Ich gehe zum Telefon, um mich nochmals wegen der Wohnungsdurchsuchung zu erkundigen, kann aber niemanden erreichen. Als ich auflege, höre ich vor dem Gebäude einen Schrei. Den Schrei meiner Kollegin.
Ich renne sofort raus.
Sie steht mit erschaudertem Gesicht am Treppenabsatz und starrt auf die Figur am Boden:
Der Verdächtige! Seine Augen und sein Mund sind weit aufgerissen. Seine zitternden Hände fahren an deinem Hals entlang. Genauer gesagt am Fremdkörper, der in seiner Kehle steckte. Erst nach Sekunden erkenne ich, dass es ein Lötkolben ist.
Bevor ich reagieren kann, erschlafften seine Hände und fallen zu Boden. Sein offener Mund füllt sich mit Blut und er starrt mit leeren Augen in den Nachthimmel.
Ich steige die Treppen herab, schaue mit Entsetzen auf den leblosen Körper zu meinen Füßen. Sekunden später höre ich neben mir ein Geräusch. Es ist der Körper meiner Kollegin, der zu Boden fällt, während ihr Kopf einen halben Meter zur Seite rollt.
Erst realisierte ich garnicht, was passiert ist. Dann stehe ich mit gezückter Waffe da, schaue mich auf der Straße um. Keine Menschen zu sehen, alle Fenster sind Dunkel, kein Auto. Ich blicke zur Seite und sehe, wie ein Hammer genau auf meinen Kopf zu fliegt.

Freitag, 28. Juni 2013

Unsichtbare Schreie in der Schule

Psycho-Killer findet neues Opfer

Polizist auf der Jagd nach dem Verbrecher brutal ermordet
Vor 10 Jahren wurde eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt, als ein Unbekannter eine Gruppe Grundschulkinder in eine Falle lockte und wahrscheinlich auf grausame Weise tötete. Die genauen Umstände konnten bis heute nicht geklärt werden. Nur eines der Kinder überlebte diesen Tag, muss aber den Rest seines Lebens mit den mentalen Folgen leben.
Vor ein paar Tagen wurde der Wald, in dem das Verbrechen geschah wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht(wir berichteten). Auch der Täter kam zurück. Im Waldstück wurden Hinweise gefunden, dass dieser ein neues Opfer sucht. Daraufhin hat sich ein Polizist alleine auf die Lauer gelegt, um den Mörder am Tatort zu stellen. Für seinen Alleingang musste der Recklinghäuser mit seinem Leben bezahlen. Der Mörder hat ihn entführt und umgebracht. 
Vor zwei Tagen erreichte die Polizeizentrale ein Paket vom Mörder, das Leichenteile und das Tagebuch des Polizisten enthielt, in dem der Ablauf des Verbrechens dokumentiert.
Die Polizei sucht nun mit Hochdruck nach dem Mörder. Eltern wird geraten ihre Kinder abends nicht mehr alleine auf die Straßen gehen zu lassen, da zu erwarten ist, dass er erneut zuschlägt. 
„Wir tun alles was in unserer Macht steht um den Menschen ihre Sicherheit zurückzugeben!“, sagte ein Polizeisprecher im Interview mit dieser Zeitung. [...]

Matthias schlug die Zeitung zu, legte sie zur Seite und wendete seinen nachdenklichen Blick aus dem Fenster.
Zur Zeit des ersten Mordes war Matthias gerade auch acht Jahre alt. Mit einem der Opfer war er sogar zusammen im Kindergarten, daher hat er natürlich den Trubel in den Medien und bei den Menschen mitbekommen. Seine Eltern ließen ihn und seinen zwei Jahre älterer Bruder für Monate nicht mal alleine zur Schule gehen, so besorgt waren sie. So ging es vielen Eltern, und auch Lehrer waren in den Pausen besonders aufmerksam, da ja niemand wusste, wie der Mörder das angestellt hat und ob sich das nicht jederzeit wiederholen kann.
Und nun hat es sich wiederholt. Nur, dass diesmal ein Erwachsener das Opfer war.
Matthias' Vater betrat die Küche und setzte sich neben ihn an den Frühstückstisch.
„Guten Morgen, Junge.“
„Morgen Papa. Hast du das mit dem Polizisten gehört?“
„Welcher Polizist?“
„Der, der hier an der Zeche ermordet wurde. Es soll der Täter gewesen sein, der vor 10 Jahren die Kinder abgeschlachtet hat.“
Der Vater füllte seine Tasse mit Kaffee und trank einen Schluck.
„Wähle bitte einen anderen Ausdruck als 'abgeschlachtet'. Ein bisschen Respekt sollte schon sein. Aber ja, ich habe davon gehört. Haben die gestern in den Nachrichten gebracht.“
„Und was hältst du davon?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der gleiche Täter ist, wie beim letzten Mal. Das ist 10 Jahre her, wie du schon sagtest. In dem Zeitraum hätte es andere Opfer gegeben, wenn es ein Wiederholungstäter ist.“
„Kann doch sein, dass es welche gab. Es werden doch immer wieder Menschen vermisst gemeldet und nicht wieder gefunden. Er muss ja nicht in Recklinghausen geblieben sein, so dass kein Zusammenhang zu damals hergestellt wurde.
„Kann ich mir aber eigentlich nicht vorstellen. Dann hätte man doch diese Sägen gefunden, die doch angeblich sein Markenzeichen sein sollen.“
„Vielleicht hat er diese Säge nur einmal verwendet, und hat dies nun wiederholt, weil das Verbrechen am gleichen Ort geschehen ist?“
„Glaube ich nicht. Das war sicherlich ein Trittbrettfahrer, der eine Hysterie wie damals auslösen wollte, was er anscheinend auch geschafft hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass es diese 'Los Kanakos'-Typen waren. Die haben in letzter Zeit so viel angestellt.“
„Aber ermordet haben sie noch niemanden.“
„Das muss doch nichts heißen.“
„Ja, aber ich denke das ist der gleiche Täter. Und er wird wieder zuschlagen.“
„Wann? In 10 Jahren? Nein, ich lass mich nicht wieder verrückt machen so wie damals. Wenn du das willst, von mir aus, aber für mich ist das Thema gegessen.        
Ist deine Mutter schon bei der Arbeit?“
Matthias war ein wenig verärgert, dass sein Vater die Situation nicht ernst nahm. Aber er wollte sich nicht mit ihm streiten, da er wusste, dass sein Vater sich nicht von ihm beirren lässt.
„Ja, sie hat nur eben schnell Frühstück gemacht und ist dann vor etwa 30 Minuten aus dem Haus gegangen.“, antwortete Matthias.
„Okay. Und was hast du heute vor? Gehst du deinen Bruder besuchen?“
„Nein, ich muss zur Schule.“
„An einem Samstag?“, fragte der Vater verwirrt.
„Ja, ich bin doch in dieser Projektgruppe, mit der wir an diesem Wettbewerb teilnehmen, und da wollen wir uns heute treffen um weiterzuarbeiten.“
„Ist zwar seltsam so kurz vor den Sommerferien aber na gut. Kann sicher nicht schaden. Wann musst du denn da sein?“
Matthias schaute auf seine Armbanduhr und entschied, dass er weiteren Gesprächen mit seinem Vater aus dem Weg gehen wollte.
„Ich muss jetzt los.“, antwortete er, trank seinen Kaffee aus, stand auf und verließ den Raum. Dabei rief er seinem Vater noch zu: „Bin zum Mittagessen wieder hier.“ Und kurz darauf hat er das Haus verlassen.
Auf dem Weg zur Schule beobachtete er die Menschen. Sie gingen alle schneller als sonst und allgemein waren weniger Menschen auf den Straßen als an einem normalen Samstag Vormittag. Vor allem Kinder waren kaum zu sehen. Die Spielplätze waren verwaist, nur ein kleines, türkisches Mädchen saß auf der Schaukel, während ihre Mutter auf der Bank wie ein Erdmännchen die Umgebung scannte.
Polizisten gingen zu zweit Streife und hielten jeden an, der verdächtig wirkte. Ein Bauarbeiter, der eine Säge mit roten Farbspritzern bei sich trug wurde gleich von insgesamt fünf Polizisten umringt und versuchte fast schon panisch die Polizisten von einem unglücklichen Zufall zu überzeugen.
'Wenn es nur ein Trittbrettfahrer war und es keine weiteren Überfälle gibt', dachte Matthias, 'warum sind dann alle Menschen so besorgt?'
Auf den letzten Metern zur Schule dachte er weiter über den Mord nach. Seit dem letzten Abend wollte ihm diese Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Als er an der Schule ankam, sah er auch schon das Auto von seinem Lehrer Herr Winsiewski, sowie das Auto von Heiko und das Fahrrad von Lukas. Sonst war niemand in der Schule.
'Zum Glück sind die immer so früh dran, sonst dürfte ich draußen stehen und warten.' dachte er und ging zum Haupteingang im Nordosten der Schule.
Die Schule war quadratisch aufgebaut und bestand aus vier Stockwerken. Die Flure waren außen an den Seiten, während die Klassenzimmer nach innen zum Innenhof der Schule angebracht waren. Die Treppenhäuser waren in den vier Ecken des Quadrates.
Der Raum, wo sich die Projektgruppe traf, war im 3. Stockwerk an der Nordseite.
Matthias betrat die Schule. Der Haupteingang war der einzige, der geöffnet war. Wie immer, wenn es außerschulische Veranstaltungen gab.
Er ging, noch immer in seinen Gedanken bei dem Verbrechen, die Treppen nach oben und hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.
Als er den ersten Stock erreichte hörte er von rechts plötzlich einen Schrei.
Er fuhr zusammen und wäre vor Schreck fast die Treppen runtergefallen, aber er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten.
Der Schrei war nicht laut, aber in einer hohen Tonlage, wie ein kreischendes Kind. Er riss Matthias aus seinen Gedanken in die Realität.
Matthias' Herz raste. Mit zitternden Schritten ging er auf den Gang zu, aus dem der Schrei kam.
„I-Ist da jemand?“, rief er zögernd.
Es kam keine Antwort und es war niemand zu sehen. Die Räume waren alle verschlossen, ebenso die Tür, die den Ost- vom Südflügel trennt.
Er blieb eine Minute stehen, aber es rührte sich nichts.
Unsicher was er wahrgenommen hat, setzte er, immer noch mit erhöhtem Puls, seinen Weg nach oben fort. Diesmal allerdings deutlich schneller als zu Beginn.
Als er den Raum erreichte, wurde er freundlich empfangen:
„Grüß dich, Matthias!“, sagte Herr Winsiewski und musterte ihn. „Was ist los, du bist so blass?“
„Er hat letzte Nacht zu lange gezockt.“, scherzte Lukas.
„Nein,“, sagte Matthias, „ich hab nur vorhin... ich hab mich erschreckt.“
„Vor was?“
„Da war etwas im ersten Stock. Es hat geschrien. Aber ich hab niemanden gesehen.“
Wisniewski runzelte die Stirn und schaute ihn an. Lukas saß neben Heiko in der anderen Ecke des Raumes und spottete weiter gegen Matthias: „Von zu viel World of Warcraft bekommt man Halluzinationen, weißt du doch.“
„Ich denke auch, dass du dir das eingebildet hast.“, sagte Wisniewski. „In der Schule ist niemand.“
Matthias war sich selbst nicht mehr sicher, was er denken sollte. War es real oder hat er sich so viele Gedanken über den Mord gemacht, dass er schon davon halluziniert? Er wusste es nicht, aber er beschloss die Sache zu vergessen und fing an den anderen bei der Arbeit am Pendel zu helfen.
„Wer kommt denn noch alles?“, fragte er später als Herr Winsiewski zum Baumarkt gefahren ist.
„So viel ich weiß nur noch Benny, wenn er aus Essen zurückkommt.“, antwortete Heiko und schaute kurz auf die Uhr. „Eigentlich müsste er gleich kommen. Gut so, vier Leute sind zu wenig um das Ding zusammenzubauen.“
Fünf Minuten später, Herr Winsiewski war noch nicht zurückgekehrt, klopfte es an der Tür.
„Tür ist offen, komm rein.“, rief Heiko, der gerade die Bauanleitung studierte.
Die Tür blieb geschlossen und es klopfte erneut.
„IST OFFEN!“, schrie Heiko diesmal, aber wieder betrat keiner den Raum und es klopfte erneut.
„Will Benny mich verarschen?“ Heiko legte die Anleitung zur Seite,  ging zur Tür und trat hinaus. „Wieso klopfst du dauernd und kommst nicht einfach...“
Er schaute auf den Flur, aber es war niemand zu sehen.
„Benny?“ Er trat auf den Flur und ging ein paar Meter in jede Richtung.
Als er zum Physik-Raum zurückkehrte, fragte Matthias:
„Was war da los, wer hat geklopft?“
„Anscheinend Niemand. Zumindest ist keiner auf dem Flur.“
„Vielleicht wollte uns jemand ärgern.“, warf Lukas ein.
„Wer denn?“, fragte Heiko.
„Irgendeine AG oder so.“
„An einem Samstag? Außerdem weiß doch keiner, außer Herr Winsiewski und Benny, dass wir hier sind.“
„Doch, der Sohn von Herr Winsiewski.“
„Glaubst du im ernst, dass er extra hierhin kommt, um seinen Vater zu ärgern? Außerdem war keiner auf dem Flur.“
„Komisch. Erst der Schrei, jetzt das...“, murmelte Matthias mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Sie machten sich schweigend wieder an die Arbeit. Bei der Sache waren sie aber nicht, da jeder eine Antwort auf diese Frage suchte. Bis Herr Wisniewski durch die Tür kam.
„Na, Benny immer noch nicht da?“
„Anscheinend nicht.“, sagte Matthias nach kurzem zögern.
„Er kommt sicher gleich, steht im Stau oder so. Kommt einer von euch mit runter zum Auto, um den Sand hochzutragen?“
„Mach ich.“, sagte Lukas und verließ mit Herr Winsiewski den Raum.
Kurz darauf fragte Heiko: „Wollen wir Herr Winsiewski nicht von dem Klopfen erzählen? Vielleicht hat er jemanden gesehen.“
„Ich denke das hätte er uns gesagt, wenn jemand in der Schule rumläuft. Und nein, das mit dem Schrei hat er mir ja auch nicht geglaubt.“
„Stimmt, du hast ja einen Schrei gehört, ganz vergessen. Hängt das vielleicht zusammen?“
„Wie denn?“
„Wie Lukas schon sagte, vielleicht will uns jemand ärgern. Oder uns Angst machen. Jetzt wo der Killer....“
Ein weiterer Schrei, der diesmal vom Flur vor dem Physikraum kam, ließ ihn verstummen. Ein Schrei einer bekannten Stimmt.
„Lukas!“
Heiko rannte raus und sah vor der Tür den verstümmelten Körper von Lukas liegen. Der rechte Arm fehlte und überall war Blut. Weiter den Flur entlang lag Herr Winsiewski, ebenfalls in einer Blutlache.
„Scheiße.“
Er rannte zu ihm hin und brauchte nicht lange um die Situation zu erkennen. Er riss das Schlüsselbund aus der leblosen Hand, rannte zurück zum Physikraum und schloss Matthias und sich ein. Schwer atmend, fast schon keuchend setzte er sich auf den nächsten Stuhl und Matthias brauchte nicht lange, um an seinem Gesichtsausdruck die Situation zu erkennen. Ein fragender Blick und Heikos entsetztes Nicken bestätigten seine Vermutung. Er holte sofort sein Handy raus und wählte die Nummer der Polizei. Doch ein Blick auf das Display verhinderte es.
„Kein Empfang.“
Angst verhinderte weitere Gespräche. Sie wussten, sie waren gefangen. Im Flur lief der Mörder herum und wenn sie durch das Fenster gingen, würden sie nach drei Stockwerken schutzlos und immer noch gefangen im Innenhof landen. Die einzige Möglichkeit war, dass sie dort warten, bis jemand vorbei kommt.
„Benny!“, brach es nach langem Schweigen aus Matthias heraus. „Wenn er kommt, läuft er dem Mörder in die Arme.“
Heiko schaute ihn mit unverändertem Gesichtsausdruck an.
„Und was willst du dagegen machen? Wenn du rausgehst, um ihn zu warnen, bist du genauso tot.“
Er hatte leider Recht. Entweder Benny oder alle. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder?
Ein Kratzen an der Tür unterbrach seine Gedanken.
„Er steht vor der Tür.“, flüsterte Heiko. In seiner Stimme lag deutlich die Todesangst.
„Aber er kann nicht rein. Das ist eine Sicherheitstür und er hat ja nur.... eine Säge.“, stammelte Matthias und versuchte vergeblich dabei beruhigend zu klingen.
Das Kratzen hielt an. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Fünfzehn ohne Unterbrechung. Im Raum saßen Matthias und Heiko in der hintersten Ecke unter einem Tisch. Ohne zu reden, ohne irgendein Geräusch zu machen.
Halbe Stunde. Immer noch das Kratzen. Zwischendurch hörte es immer wieder für einige Sekunden auf, aber gerade als sie sich Hoffnungen machte, setzte es wieder ein.
Eine Stunde. Das Kratzen ist verstummt. Schon seit einigen Minuten. Aber sie saßen in der gleichen kauernden Position auf dem Boden, als es plötzlich klopfte.
Sie zuckten zusammen. Matthias entfuhr ein kleiner Schrei. Die Tür öffnete sich und Benny betrat den Raum. Er sah die Gesichter von Matthias und Heiko und fragte:
„Was ist denn hier los?“
Nach kurzem Schweigen antwortete Heiko.
„Wie bist du hier rein gekommen? Wo ist Er?“
„Durch die Tür! Meinst du Winsiewski?“
„Hast du ihn draußen nicht gesehen? Mit Lukas?“, fragte Heiko verwundert.
„Was, nein, wieso? Sind die eben rausgegangen?“
Heiko stand verwundert auf und ging mit zitternden Knien auf den Flur hinaus.
Tatsächlich. Nichts. Keine Leiche, kein Blut. Kein Killer.
Keine Kratzer an der Tür.
Er schaute auf sein Handy. Empfang.
„Was ist hier passiert?“, fragte Benny, als er Heikos Gesicht nach der Inspektion gesehen hatte.
Heiko erzählte ihm die Ereignisse der letzten Stunden, während Matthias die Polizei rief. Als diese eintraf, wiederholten sie die Geschichte.
Nachbarn sagten später aus, dass sie Niemanden die Schule betreten oder verlassen sahen. Daraufhin durchsuchte die Polizei das Gebäude und fand im ersten Stock auf der Ostseite die Leiche eines kleinen, türkischen Mädchens, dass erst vor wenigen Minuten als vermisst gemeldet wurde. Neben dem Körper lag die Säge.
Lukas und Herr Winsiewski blieben verschwunden.
Heiko und Matthias haben daraufhin die Schule gewechselt, ebenso wie Benny und viele weitere Schüler, vor allem jüngere. Das Ende der Schule ist nahe.

Dienstag, 11. Juni 2013

Die Karte


Das Leben in Berlin bietet einem Menschen viele Möglichkeiten. Möglichkeiten, die man in vielen anderen Städten von Deutschland nicht hat. Zum Einen ist es die Größe dieser beeindruckenden Stadt, die einem als Einzelnen doppelte Chancen gibt. Versagst du an einem Ort, gehst du ein Stadtteil weiter. Die vielen Menschen sorgen nicht nur dafür, dass du viele Kontakte knüpfen kannst und fremde Kulturen kennen lernst, sondern auch, dass du viele Einnahmequellen hast. Wenn ein Mensch dir nichts bringt, gehst du zum Nächsten. 
Mein aktueller Arbeitsplatz ist der Alexanderplatz. Ich arbeite dort als Taschendieb. Diese Methode Geld zu verdienen habe ich von meinem Onkel beigebracht bekommen. Er hat damit zu seiner besten Zeit mehrere tausend Mark die Woche gemacht, was ihn ein fast-luxuriöses Leben in Berlin ermöglichte. Und er wurde nie erwischt. Nie hat er eine Anzeige bekommen, nie hat er ein Gefängnis von innen gesehen. Er ist ein wahrer Meister dieser Branche.
Als ich mit elf Jahren nach dem Tod meiner Eltern zu ihm kam, hat er schnell mein Potential erkannt und mich ausgebildet. So konnte ich mit 16 die Schule abbrechen und arbeite nun schon seit sieben Jahren vollzeit mit ihm zusammen. Auch ich wurde noch nie erwischt. Zumindest nicht in den letzten Jahren. In meiner Anfangszeit bin ich beim Üben mehrfach auf die Nase gefallen. Aber kein Gericht der Welt steckt ein Kind in den Knast. Daher konnte ich bis jetzt nahezu ungestört arbeiten.
Auch heute bin ich wieder am Alex unterwegs. Es ist einer der besten Plätze in Berlin, das hat mein Onkel schon früh erkannt. Die beste Zeit ist ein Freitag Nachmittag, wenn die Menschen von der Arbeit kommen, unvorsichtige 14 jährige shoppen wollen oder Menschen einfach Freunde treffen wollen. Das sonnige, sommerliche Wetter lockt noch mehr Menschen ins Freie. Eis- und Bratwurstverkäufer laufen über den Platz und ziehen die Massen an.
Ich gehe den Platz auf und ab, unauffällig, immer auf der Hut, dass mich niemand länger als 5 Sekunden beobachtet. Vor allem kein uniformierter. 
Ich trage einen Anzug mit Krawatte, trage dunkle Schuhe und dunkle Hosen. So sehe ich aus wie ein Geschäftsmann. Niemand unterstellt mir etwas. 
Auf der Suche nach dem ersten Opfer des Tages, fallen mir zwei übermütige Jugendliche auf, die versuchen von hinten an die Handtasche einer Frau zu gelangen. Sie werden natürlich erwischt. Die Frau schreit hysterisch auf und die Halbstarken flüchten in den U-Bahnhof. 
“Amateure!”, denke ich und grinse vor mich hin. Dann sehe ich einen Mann, der in der Schlange des Bratwurstverkäufers steht. Seine Jeanstasche scheint viel zu klein für seine Geldbörse. Sie guckt zur Hälfte raus, bei der kleinsten hastigen Bewegung fällt sie auf den Boden. Perfekt. Ziel erfasst. 
Der Verkäufer steht direkt neben dem Eingang zur U-Bahn. Ich warte 50 Meter entfernt auf einer Bank, bis der Mann seine Wurst hat und sein Geld wieder unzulänglich in der Jeans verstaut ist. Dann geht es los. Ich schaue auf die Uhr und spurte zum Bahnhof. Die Menschen um mich herum beachten mich kaum. Ich bin nicht der erste Geschäftsmann, der seine U-Bahn zu verpassen droht. Auf den Weg dahin stoße ich sanft mit dem Bratwurstesser zusammen. Meine Finger sind blitzschnell, noch bevor ich mich kurz und aufrichtig bei dem Mann für meine Ungeschicktheit entschuldige, ist sein Geld in meiner Anzugtasche verschwunden. Ich renne weiter nach unten und beachte den Mann hinter mir nicht mehr, suche mir die nächste U-Bahn und steige ein. 
Nach drei Stationen steige ich aus und zeige dem Schaffner auf dem Weg nach draußen noch meine Monatskarte. Ein wichtiges Arbeitsutensil für diesen Job.
Wieder auf der Straße setze ich mich an der nächsten Bushaltestelle auf die Bank und begutachte meine Beute. Hundertdreißig, hundertvierzig Euro. Nicht schlecht für sechzig Minuten Arbeit.  Aber es geht noch mehr. Daher steige ich in den nächsten Bus zum Alex und fahre zurück. Ich gehe nicht direkt wieder auf den Platz, sondern erst ins Alexa, wo ich auf der Besuchertoilette die Geldbörse und die Papiere des Mannes verschwinden lassen, und das Geld in meiner eigenen verstauen kann. Fertig. Noch ein Snack für zwischendurch und zurück zur Arbeit. Aber diesmal komme ich nicht bis zum Platz. Am Eingang des Einkaufszentrums sehe ich eine Gruppe von Schülerinnen, die gerade eine Handtasche bewundern, die eine von ihnen gekauft hat. Dabei lassen sie ihre eigenen Handtaschen vollkommen aus dem Blick. Zudem stehen sie genau in der Ecke, die nicht von den Kameras überwacht wird. Diese hat mir mein Onkel vor Jahren gezeigt. Wie eine Einladung zu einem Drei-Sterne-Menü. 
Den In-die-U-Bahn-rennen - Trick kann ich hier nicht anwenden. Daher muss ich das Opfer anders ablenken.
Ich gehe schnellen Schrittes an der Gruppe vorbei und remple die Zweite an, während meine Hand in die Handtasche der ersten wandert. Ich bleibe stehen und entschuldige mich bei ihr, während sie mich anschnauzt. Ich gehe langsam Rückwärts, wiederhole meine Entschuldigung, während sie wie erwartet ihre Handtasche überprüft und dort das Portemonnaie vorfindet. Die andere, deren Portemonnaie ich nun habe, fühlt sich unbeteiligt, so dass ich trotz Beschimpfungen das Alexa mit mehr Geld als vorher verlassen kann, nachdem sich die Angerempelte beruhigt hat. 
Draußen suche ich mir wieder eine Haltestelle, aber abseits vom Alexanderplatz. Eine Geldbörse mit Blumenmuster bei einem Geschäftsmann in einer Menschenmenge ist zu auffällig.
Ich finde 200 Euro. “Da hat wohl jemand Taschengeld bekommen.”, denke ich und stecke sie zurück in meine Tasche. “340 Euro sind für heute ausreichend.”, entscheide ich, gehe zum U-Bahnhof und steige in die U 8 Richtung Wittenau. Ich wohne in einem Haus mit meinem Onkel in Reinickendorf. Auf den Weg zur U-Bahn sehe ich meine beiden Opfer nicht mehr. “Ob sie schon von ihrem Verlust erfahren haben?”, frage ich mich und grinse bei dem Gedanken, wie das Mädchen sich eine neue Handtasche kauft, und sie nicht bezahlen kann.
Nach einigen Minuten erreiche ich den Bahnhof “Rathaus Reinickendorf” und steige aus. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Auf dem Weg nach oben sehe ich eine ältere Dame, ich schätze sie auf 60, am Treppeneingang stehen. Sie hält ein Iphone an ihr Ohr und redet in einer fremden Sprache. Über ihre Schulter hängt eine offene Handtasche, bis zum Rand mit Papieren und Mappen gefüllt. Die Geldbörse oben auf. 
Ohne zu denken beschleunige ich, remple und greife. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Ich brauch mich nicht mal entschuldigen, die Frau scheint keine Notiz von mir genommen zu haben. Umso besser.
Noch fünf Minuten bis nach Hause. Auf dem Weg entledige ich mich dem Portemonnaie des Mädchens, indem ich es in einem unbeobachteten Moment in ein Gebüsch werfe, während das Geld in meine Tasche wandert. Die Beute vom Rathaus werde ich Zuhause begutachten.
Als ich dort eintreffe, sitzt er bereits unten in der Küche. Vor sich sein abendlicher Wodka.
“Jackpot dabei?”, fragt er mich wie jeden Tag.
“340 plus das hier.”, sage ich und zeige ihm die Geldbörse der alten Dame. 
“Was ist da drin?”
“Weiß noch nicht, werd es gleich herausfinden.”
Ich gehe nach oben in den ersten Stock, wo sich meine kleine Wohnung befindet. Dort setze ich mich auf mein Bett und schaue in die Geldbörse. Zu meiner Überraschung ist diese fast leer. Keine Papiere, kein Geld. Nicht mal Centstücke. In dem Fach, wo sich eigentlich die Geldscheine befinden sollten, finde ich nur ein Stück dünne Pappe in der Größe einer herkömmlichen Spielkarte. Sie ist auf einer Seite mit einer Schwarz-Weiß-Skizze bedruckt, dass eine alte Frau zeigt. Diese liegt auf einem Weg oder einem Fluss, mit halb geöffneten Augen und schaut in den Himmel. Als würde sie jeden Moment sterben. Als würde sie diesen Moment herbei sehnen. Neben der alten Frau sind auf der Karte Verzierungen und Zeichen, die ich nicht zuordnen kann. Möglicherweise eine fremde, lange vergessene Sprache. Zudem auch Symbole, die mir bekannt sind. Eine Mondsichel, sowie drei Kreuze, die die Eckpunkte eines Dreiecks bilden, dass die Frau umschließt.
Ich beschließe die Karte zu behalten. Auch wenn ich nichts damit anfangen kann, könnte sie was wert sein. Ich stecke sie zusammen mit dem Geld, dass ich heute eingenommen habe, in eine Box unter meinem Bett. Damit falle ich bei keiner Bank mit “unversteuerten Einnahmen” auf.
Ich gehe nochmals runter ins Erdgeschoss zu meinem Onkel, sage ihm, dass die letzte Geldbörse leer war und frage nach Abendessen. Wie fast immer bekomme ich die Antwort “Bestell dir ne Pizza!”. Nur selten gibt es bei uns im Haus eine gemeinsame Mahlzeit. Da ich diesmal keinen Appetit auf Fast Food habe, beschließe ich einen Abend mit Chips vorm Fernseher. 

Ich werde Stunden später von einer Sirene geweckt. Ich liege auf meinem Bett, mit der Chipstüte unterm Arm, der Fernseher läuft noch. Ich denke zuerst, das Geräusch kommt von dort. Dann nehme ich einen Geruch wahr und ich realisiere, dass es der Feueralarm ist.
Ich ziehe mir schnell eine Jeans drüber und renne nach unten. Die Küche steht bereits lichterloh in Flammen, der Rauch ist so dicht, dass ich nicht sehen kann, was in den anderen Räumen ist; wo mein Onkel ist. Ich vermute, dass er bereits draußen ist und renne durch die offen stehende Tür nach draußen, wo ich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder Luft holen konnte. Erst jetzt sehe ich den Ursprung des Feuers: Unseren Keller. Die Flammen gucken aus den Kellerfenstern wie die Hälse der Drachen, die die Küche anfressen. Auch die beiden Nachbarhäuser sind von den Flammen im Keller betroffen.
“Brandstiftung!”, vermute ich. Wie sonst können mehrere Keller gleichzeitig Feuer fangen?
In der Ferne höre ich bereits die Sirenen der Feuerwehr. Ich schaue mich um. Mein Onkel steht nicht auf der Straße. Unter den viele Gesichtern, Schaulustige, Betroffene, kein bekanntes. 
Ich überlege, ob ich wieder rein soll und ihn retten, als es plötzlich zu einer Explosion kommt, die die Mauern zerfetzte und die herumstehenden Personen umwarf.

Am nächsten Morgen wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Fünf Reihenhäuser wurden von den Flammen und der Explosion zerstört. Neben der verkohlten Leiche meines Onkels wurden von der Feuerwehr drei weitere Leichen geborgen. Das ältere Ehepaar, dass neben uns wohnte, sowie ein Gaffer, der bei der Explosion von einem Trümmerteil erwischt wurde. Viele weitere wurden verletzt. Ich gehöre glücklicherweise nicht dazu. Ich habe zwar alles verloren, außer die Hose, die ich anhabe, aber mir geht es gut. Nachdem die Feuerwehr eintraf, weigerte ich mich ins Krankenhaus zu gehen, um mich untersuchen zu lassen. Stattdessen fuhr ich mit der U-Bahn zum Alexanderplatz und wartete dort auf den Morgen. 
Dort sitze ich immer noch. Ohne Haus, ohne Anzug, in einem Unterhemd, mit dem bisschen Geld von gestern. Ich frage mich wohin. Nach dem Tod meiner Eltern kam ich zu meinem Onkel. Ich hatte nie viel Kontakt zu anderen. Jetzt bin ich allein. Ich könnte zwar zu einem meiner Bekannten gehen, aber diese wissen nichts von meiner Tätigkeit. Und es soll auch so bleiben.
Ich entschließe mich zu einem Spaziergang durch die Stadt. Vielleicht habe ich Glück und finde etwas.
Nach etwa einer halben Stunde erreiche ich das Brandenburger Tor. Dort kaufe ich mir eine Bratwurst, als ich die Karte der alten Dame in meinem Portemonnaie sehe. Ich dachte, ich hätte sie im Haus gelassen und sie wäre dort verbrannt. Da ich nichts zu verlieren habe, frage ich den Verkäufer, ob er mir etwas über diese Karte sagen kann. Vielleicht kann sie mir noch nützlich sein.
“Tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Sieht mir aus wie eine Tarotkarte, aber ich weiß es nicht.”
Wie ich erwartet habe. Ich bedanke mich, nehme mir die Bratwurst und stecke gerade die Karte zurück in meine Tasche, als der Verkäufer sagt: “Ich kenne jemanden, der vielleicht helfen kann. Sie ist Kartenlegerin, allerdings ist sie nur nachts erreichbar. Wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?” Ich weiß keine Antwort. Achselzuckend sage ich “In der Spree!” und teile ihm mit meinen Blicken mit, dass er nicht erneut fragen soll. “Na gut... Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend um 22 Uhr erneut hier treffen, dann zeige ich ihnen den Weg. Die Frau ist ein wenig menschenscheu, daher ist es besser, wenn ein bekanntes Gesicht dabei ist.”
“Was habe ich schon zu verlieren?”, sage ich. 
Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht würde ich dort Obdach finden. Die Frau und der Verkäufer sind eindeutig nicht ganz sauber.  Wer weiß, was sich daraus ergibt.
Die Wartezeit überbrücke ich, in dem ich mir “Unter Den Linden” Hemd, Anzug und literweise Kaffee kaufe. 
Als es endlich dämmert, stehe ich bereits am Brandenburger Tor. Nach wenigen Minuten kommt der Wurstverkäufer. Er trägt nun ebenfalls einen Anzug, anstatt seiner Grillschürze. 
“Wie ich sehe haben Sie sich umgezogen.”, sagt er. Ich gehe nicht darauf ein. “Führen Sie mich bitte zu Ihrer Bekannten.”, sage ich ruhig. 
Er ging voraus, ohne Worte folgte ich ihm. Als wir zur Spree gelangen, bittet er mich, ihm nochmals die Karte zu zeigen. Ich hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche, nehme die Karte heraus und halte sie ihm hin. Doch anstatt der Karte greift er sich das Portemonnaie, reißt es aus meiner Hand und stößt mich rückwärts mitsamt der Karte in die Spree. Ich stoße einen kurzen Schrei aus und tauche unter. Als ich meine Kopf wieder über Wasser bekomme, sehe ich noch, wie er mit meinem restlichen Geld die Straße entlang davon läuft.
“Dreckschwein!”, schreie ich ihm hinterher. Dann spüre ich plötzlich wie etwas an meiner linken Hand zieht, erst leicht, dann immer stärker, so dass es mich nach unten reißt. Ich merke, dass es die Karte ist, die plötzlich so schwer wie ein Haufen Ziegelsteine ist. Ich versuche meinen Griff zu lockern, die Karte loszulassen, doch ich kann meine Finger keinen Millimeter bewegen. Ich bin bereits am Grund der Spree angekommen, versuche meinen Kopf über Wasser zu kriegen. Ohne Erfolg. Es ist, als wäre mein Arm am Flussbett festbetoniert. Rütteln, ziehen, stoßen, während mir die Luft aus geht und ich schließlich das Bewusstsein verliere. 

Dienstag, 30. April 2013

Unsichtbare Schreie im Keller


Es ist knapp zehn Jahre her. Es stand überall in den Zeitungen, auch in den Bundesweiten Nachrichten wurde ein Bericht gebracht. Dies war wohl das schrecklichste Ereignis, welches Recklinghausen seit dem 2. Weltkrieg erlebt hat. Die ganze Stadt war geschockt. Niemand hätte auch nur ansatzweise damit gerechnet, dass so ein schreckliches Verbrechen hier in unserer sonst so verschlafenen Stadt überhaupt möglich ist.
Aber am schlimmsten war es wohl für den Überlebenden und für die Eltern der Opfer. Ich denke kein Mensch der Welt wünscht sich, oder seinen schlimmsten Feind, ein ähnliches Schicksal.

Bis vor ein paar Wochen hatte keiner eine Erklärung für diese Ereignisse. Es wurden keine Leichen und keine Hinweise auf einen Täter gefunden. Keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren, nichts! Die Ermittler suchten den ganzen Wald ab, befragten über Jahre hinweg Zeugen. Nichts! Aber dann, zwei Wochen nachdem das bis dahin gesperrte Zechengelände und der dazu gehörende Radweg, sowie der Birkenwald wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, fand ein Spaziergänger in dem Wald, nur wenige Meter vom Tatort erntfernt, eine Säge. Diese übergab er sofort der Polizei, da er als eingefleischter Recklinghäuser mit dem Fall bestens vertraut war. Wie sich herausstellte, war es die richtige Entscheidung. Eine Gruppe Polizisten durchsuchte daraufhin erneut das Waldstück, wo die Säge gelegen hat, und fand, nur wenige hundert Meter neben dem alten Benzintank, ein Zelt. In dem Zelt lagen Fotos von einem achtjährigen Jungen. Dieser lag auf dem Boden in einem Raum, offensichtlich ein Keller. Man konnte dem Jungen seine Furcht ansehen. Er weinte vor lauter Todesangst. Die Polizisten erkannten sofort, dass es sich bei dem Jungen um eines der Opfer von vor zehn Jahren handelte.
Dieser Fund war eine Sensation. Es bedeutete, dass der Täter zum Ort des Verbrechens zurückgekehrt ist, und eventuell Jagd auf sein nächstes Opfer macht. Und damit auch endlich wieder fassbar war. Der Hauptkommissar, der mit dem Fall beauftragt war, wusste, dass er ein weiteres Verbrechen verhindern kann. Er beschloss dem Täter eine Falle zu stellen.
Am nächsten Tag ging er in den Birkenwald, der absichtlich nicht abgesperrt wurde, und stelle sein Zelt auf halben Weg zwischen Tank und den Ort, wo das Zelt des Täters gefunden wurde, auf. Dieses wurde im Zuge des Planes von der Polizei nicht beschlagnahmt. Es blieb dort stehen. Zumindest bis zum nächsten Morgen. Dort war es erneut verschwunden.
Der Hauptkommissar weihte nur wenige Kollegen in den Plan ein, da er befürchtete, dass man ihn davon abhalten wollen würde. Auch die Presse wurde nicht informiert, da der Täter nichts ahnen sollte. Er sagte seinen Kollegen, dass sie ihm dort zwei Tage alleine lassen sollen. Er nahm nur Schlafsack, Dosennahrung, seine Dienstwaffe, Handschellen und ein Funkgerät mit, mit dem er im Notfall seine Kollegen hätte rufen können. Außerdem führte er ein Tagebuch, in dem er alle Ereignisse notierte.

„Freitag, 14.30 Uhr:
Ich möchte den Mörder finden. Dafür bleibe ich zwei Tage in dem Wald der unsichtbaren Schreie. Gestern wurde nach zehn Jahren des Rätselratens das Zelt des Mörders hier im Wald entdeckt. Daraufhin beschloss ich mich für 48 Stunden hier auszuhalten, da ich hoffe, dass sich der Psychopath zeigt, und ich endlich diesen Fall lösen kann.
Mein Zelt steht in einem Dicht bewachsenen Teil des Waldes, nahe dem Fundort und dem Tatort. Hier dürfte mich kein Spaziergänger entdecken. Nach dem Verbrechen trauen sich sowieso nur noch die mutigsten in den Wald.
Ich habe ausreichend Wasser, Nahrung und die wichtigste Ausrüstung dabei. Da es Sommer ist, dürfte die Kälte kein Problem werden. Ich bin zuversichtlich, dass der Täter bald hinter Gittern sitzt.

Freitag, 18.30 Uhr: Es ist jetzt Halb 7. Um diese Zeit hat sich der Täter damals sein erstes Opfer geschnappt. Ich sitze jetzt draußen vor meinem Zelt und schaue mir die friedliche Natur an. Kaum zu glauben, dass in diesem schönen Wald so etwas passieren konnte. Ohne dieses Verbrechen könnte dies ein perfektes Naherholungsgebiet werden. Für Familien, und Kinder...
Vom Täter war noch nichts zu sehen. Die einzigen Menschen die ich sah waren ein Pilzsammler mit seinem Hund und zwei Jungen, die hier vorbei liefen. Keiner von ihnen erkannte mein gut getarntes Zelt. Aber für die Kinder gab ich meine Tarnung auf. Ich sagte ihnen, dass es gefährlich ist, wenn sie hier alleine rumlaufen und dass sie besser woanders spielen gehen sollten. Sie waren ziemlich erschrocken als ich aus dem Gebüsch kam und gehorchten mir sofort. Sie wussten anscheinend nichts von dem Verbrechen und es ist meine Pflicht als Polizist sie vor Übergriffen zu schützen.
Es ist Abend und ich habe Hunger. Ich werde jetzt eine Portion Ravioli essen, um meine Sinne zu schärfen.

Freitag, 22.00 Uhr: Die Sonne ist untergegangen. Ich sitze im Licht der Taschenlampe in meinem Zelt. Aber an Schlafen ist nicht zu denken. Ich bin hier um Tag und Nacht zu suchen. Wenn der Täter heute Nacht hier vorbei schleicht, werde ich ihn stellen.

Samstag, 06.00 Uhr: Ich habe verschlafen! Kurz nach drei konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Ich weiß nicht warum, normalerweise passiert mir dies nicht. Gerade eben bin ich aufgewacht, weil die Vögel draußen mit den ersten Sonnenstrahlen ihr Lied beginnen. Ich ging vor das Zelt und traute meinen Augen nicht: Dort lag eine Säge. Das heißt, der Täter ist heute Nacht an meinem Zelt vorbeigeschlichen und ich habe ihn verpasst. Aber was hat die Säge zu bedeuten? Will er mich warnen? Will er mich verscheuchen? Was denkt dieser Irre?
Ich werde mich nicht davon abbringen lassen, ich werde hier bleiben. Angst brauche ich nicht zu haben. Vielleicht weiß er es nicht, aber ich habe auch eine Waffe. Pistole gegen Säge, der Sieger dürfte klar sein. Wenn er hier reinschaut und mein Schuss ihn nicht umbringt, darf er sich auf ein Leben hinter Gittern freuen. Aber es darf nicht noch einmal passieren, dass ich einschlafe, daher werde ich mein Zelt kurz verlassen, um mich mit Koffein einzudecken. Zum Glück ist Lidl gleich nebenan. Damit nichts geklaut wird, werde ich meine Sachen mitnehmen. Aber vorher gönne ich mir noch ein kleines Frühstück.

Samstag, 14.00 Uhr: Der rote Stier wirkt. Ich bin hellwach, obwohl ich in der Mittagshitze normalerweise immer ein  wenig träge bin. Aber meine Sinne sind hellwach.
Heute ist noch mehr los. Das Wetter ist perfekt für einen Waldspaziergang. Scheinbar ignorieren diese Menschen die Gefahr, die hier immernoch vorhanden ist. Oder es sind Touristen, die den Wald nicht kennen.
Auf jeden Fall wurde mein Zelt entdeckt. Es war eine Frau, Mitte 40, mit ihren Kindern. Sie hielt mich erst für einen Penner, aber ich erklärte ihr, dass ich hier Ermittlungsarbeit leiste. Details habe ich ihr natürlich nicht genannt. Ich bin gespannt wen ich heute noch treffe. Hoffentlich ist es der Mörder. Oder eher gesagt, das Opfer?

Samstag, 20.00 Uhr: ER WAR DA! Ich hätte ihn fast erwischt. Er stand knapp 20 Meter vor mir. Er war etwa 1.85m groß, hatte schwarze Haare, rotes T-Shirt und schwarze Hose an. Er lachte mich durch seine Sonnenbrille an und deutete mit einer Säge auf mich. Als ich meine Waffe zog rannte er weg. Ich lief hinterher, schoss ein paar mal, verfehlte ihn aber immer. Warum bloß? Das passiert mir sonst nicht. Er war wesentlich schneller als ich, so dass ich ihn nach einer Minute aus den Augen verloren habe. Er ist offenbar über den Radweg geflüchtet. Immerhin: So wurde er vielleicht von Zeugen beobachtet.
Es ist dennoch scheiße. Ich hätte meine Waffe immer in Griffweite lassen sollen. Dann hätte er nicht die Zeit gehabt zu rennen, dann wäre dieses Schwein erledigt.
Ich hoffe, dass ich durch meine Schüsse keine ungebetenen Gäste angelockt habe. Aber meine Waffe ist zum Glück nicht so laut.
Es war auf jeden Fall ein erstes Erfolgserlebnis. Der Killer ist hier, und ich bin ihm auf den Fersen. Wenn er heute Nacht zurückkommt, dann ist er dran. Das schwöre ich!

Sonntag, 03.00 Uhr: Was ist passiert? Wo bin ich? Wie komme ich hier her?
Ich bin gegen Mitternacht ganz überraschend eingeschlafen und gerade eben hier aufgewacht. Es sieht auf wie ein Keller. Es ist eng hier und die Tür ist verschlossen. Fenster gibt es nicht. Hier in dem Keller liegt die Leiche eines Mädchens. Etwa 8 Jahre alt. Ihre Arme und Beine wurden abgesägt. Überall um sie herum klebt ihr vertrocknetes Blut und es liegen überall Knochen herum. Wahrscheinlich Knochen von früheren Opfern. Ich bin kein Mediziner, aber ich denke es sind mehr als die Knochen von sechs Menschen.
Ich habe Angst. Ich habe nur meine Taschenlampe, dieses Buch und den Stift mit dem Ich schreibe! War er es? Wo hat er mich hingebracht und wie überhaupt? Das letzte was ich weiß ist, dass ich vor dem Zelt gelesen habe. Und dann: Liege ich hier. Wieso hat er mir das Buch gelassen?
Ich denke er will dass ich dies hier schreibe.
Was hat er mit mir vor? Werde ich auch einen Tod wie die anderen armen Menschen erleiden?
Um 12 Uhr kommen meine Kollegen in den Wald und werden erkennen, dass ich nicht da bin. Ich bete zu Gott, dass sie mich hier finden, wo auch immer ich gerade bin.

Sonntag, 12.30 Uhr: Wieso das alles? Wieso habe ich das gemacht. Gerade hat mein Entführer einen Zettel unter der Eisentür durchgeschoben. Dort steht, dass ich 30 Minuten Zeit habe eine Abschiedsbrief zu schreiben.
Ich habe schreckliche Angst. Ich kann nicht klar denken. Was wird er mit mir machen? Wieso musste das passieren. Und was hat er danach vor?
An meine Kollegen: Solltet ihr diese Nachricht irgendwann lesen, möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich so... so verrückt war zu denken, ich könne ihn alleine fassen. Ich war dumm und muss diese Dummheit wahrscheinlich mit meinem Leben bezahlen. Bitte! Macht nicht den gleichen Fehler wie ich. Sperrt alles ab, wo diese Morde passieren, sonst kommt er wieder. Er wird noch mehr Menschen ermorden! Kinder sind in Gefahr!
An meine Familie:...“


„Sonntag, 13.30 Uhr:
An die Polizei: Euer Kollege war stark. Er hat ganze 20 Minute überlebt. Aber dann musste auch er dran glauben. Seit so schlau und geht mir in Zukunft aus dem Weg. Nehmt den Fehler eures dummen Kollegen als Warnung.
Mich kriegt ihr nicht! Ich bin der Meister, und ihr seid meine Marionetten!
Die sieben Teile, die von eurem Kommissar noch übrig sind, werden es euch sagen können, wenn sie nicht tot wären.“


Dieses Tagebuch kam drei Tage später mit einem Paket im Polizeirevier Recklinghausen an. Mit dabei: Die Säge und ein Finger.
Die Polizei sperrte den Wald daraufhin weiträumig ab. Es sollte eine weitere Tragödie vermieden werden. Das Opfer des tapferen Hauptkommissars hat nicht nicht gelohnt. Mehr als die Größe und die Haarfarbe des Täters kennt keiner. Es gab keine Zeugen und keine Spuren. Das Zelt und alle anderen Sachen des Kommissars wurden nie gefunden.
In den Zeitungen wurde nach dem Täter erneut gefahndet. Erfolglos.
In den Wochen danach wurden an weiteren Orten in Recklinghausen Sägen entdeckt. Es gab weitere Opfer.
Der Killer ist weiterhin unterwegs. Die Polizei tappt weiter im dunkeln. Wahrscheinlich auch, weil sie Angst haben das Licht anzumachen.

Montag, 29. April 2013

Unsichtbare Schreie im Birkenwald

Das Ruhrgebiet. Eine graue Betonwüste mit nur wenigen, idyllischen grünen Inseln. War es ein mal. Heute ist es ein grün-grauer Erlebnispark mit Kultur, Industrie und besonderen Menschen. Und mit einzelnen, kleinen Wäldern, die für die gestressten Städter ein Erholungsort sind. Eine Metropole wie sie im Reisekatalog steht. Man sollte meinen, wo es so viele Menschen gibt wie im Ruhrgebiet kann nichts passieren. Dort ist alles sicher, abgesehen von den üblichen Kleinkriminellen. Alle Orte sind bekannt, überblickt. Falsch!
Was ich euch jetzt erzähle, ist wirklich so geschehen, ob ihr es mir glaubt oder nicht. Dies ist die pure, haarsträubende Wahrheit und ich wünsche jedem einzelnen von euch, dass ihr nicht in die gleiche Situation kommt wie ich.

Es war das Jahr 2002, kurz nach meinem 8. Geburtstag. Mein damaliger bester Freund und ich hatten damals eine aufregende Zeit. Wir waren gerade so alt, dass unsere Eltern uns erlaubten, alleine auch weiter weg zu gehen. Und wir waren gerade so jung, dass wir uns nicht so viele Gedanken um die Folgen unserer Handlungen machten. So waren wir, auf der Suche nach erlebnisreichen Tagen schon des öfteren zu spät nach Hause gekommen, schon oft litten unsere Hausaufgaben darunter. Wir lebten nämlich in einem Teil vom Ruhrgebiet, in dem nicht viel los war. Außer ein paar alten Bergbausiedlungen gab es nicht mehr viel. Das meiste, was von der damaligen Kohlezeit zeugte, wurde abgerissen. Die Zechentürme, die Zechenbahnen und natürlich auch die alten Zechengebäude, sofern sie nicht als Einkaufzentrum dienten. Für Kinder unseres Alters gab es nicht viel, außer ein paar Sandkästen zwischen den Reihenhäusern. Daher mussten wir Kinder der vor-Smartphone-Zeit immer improvisieren, um Spaß zu haben.
Einer unserer häufigsten Spielplätze das Gelände der ehemaligen Zeche König-Ludwig. Dort, wo früher die Zechenbahn fuhr, führte zu der Zeit ein Radweg entlang, der bei schlechtem Wetter aber kaum genutzt wurde. Rechts und links war der Radweg von Ruinen und Mauern gesäumt. Eine alte Werkstatt, ausgebrannt, deren Reste vor sich hinrosten. Auf der anderen Seite ein Gebäude das überlebt hat, nun als Diskothek dient.
Weiter den Radweg entlang wurden Kunstwerke aufgestellt, um die Region mit Touristen wiederzubeleben. Direkt daran angrenzend, auf einer Fläche, die zur Kohlezeit als Güterbahnhof diente, wuchs seit Ende der Kohle ein noch junger Birkenwald. Dieser war, im Gegensatz zu den Parkanlagen, die den Obdachlosen als Treffpunkt dienten, für Kinder zum Spielen geeignet, da niemand da ist, der einem etwas antun kann. Dachten wir. Dennoch verrieten wir unseren Eltern nicht wo wir hingehen.
Als wir, mein Freund und Ich, den Wald das erste Mal für uns entdeckten, waren wir begeistert von seinem Erscheinungsbild. In dem Wald gab es Kletterbäume, dichtes Unterholz zum Verstecken und sogar einen Bach, der allerdings einbetoniert war, weil er früher die Abwässer der Zeche in die Emscher geleitet hat. Die „Eltern haften für ihre Kinder“ - und „Das Betreten der Anlage ist mit Gefahren verbunden und nicht erlaubt“ - Schilder, die am Bach aufgestellt waren, haben uns wenig gestört.
Dieser Wald, und alles was dazu gehört, war wie ein Abenteuerspielplatz für uns.
Als es Abend wurde und wir nach Hause mussten, beschlossen wir diesen Wald bald wieder  aufzusuchen, nächstes Mal aber wollten wir noch ein paar Freunde mitbringen. Je mehr Freunde, umso mehr Spaß hat man.

Am nächsten Tag haben wir in der Schule einigen von dem Wald erzählt, und so passierte es, dass wir nach dem Mittagessen zu siebt losgegangen sind, um in den Wald zu gehen.
Es war noch besser als am Tag vorher, da wir jetzt eine größere Gruppe waren. Wir wollten ein Indianerzelt aus Stöcken bauen, die wir tipiförmig in den Boden steckten, und mit Laub bedeckten, um dort eine Art eigenes Haus zu haben. Es sollte aber noch größer werden als ein normales Tipi.
Es war eine dieser typischen Kinderfantasien. Ein eigenes Haus oder eine eigene Höhle bauen, abseits des Elternhauses, wo man seine eigenen Regeln hatte und viel Zeit mit Freunden verbringen konnte. Bereits vorher haben wir solche Pläne gehabt, doch weder der elterliche Garten, noch der Park, wo das Bauwerk direkt nach Verlassen von anderen Kindern zerstört wird, waren geeignet. Dieser Wald erschien uns eine dauerhafte Lösung.
Das Bauen des Tipis hat einiges an Zeit in Anspruch genommen. Wir hatten keine Säge dabei um Äste abzusägen, also konnten wir nur welche verwenden, die auf dem Boden lagen. Es war eine mühsame Arbeit so viele zusammenzusuchen, um ein Unterschlupf zu bauen, wo wir alle zusammen Platz hatten. Aber solange wir mit Freunden zusammen waren, war uns dies egal. Wir wollten nur unser Tipi haben.
Als es halb 7 war, beschlossen wir nach Hause zu gehen, damit unsere Eltern nicht anfangen zu schimpfen wie sie es schon viele Male vorher taten. Hausarrest wäre in der Situation eine doppelte Bestrafung. Das Tipi war noch lange nicht fertig, wir hatten erst die Hälfte der Äste zusammen, also wollten wir am nächsten Tag weiter machen und dafür hätten wir jede unserer Hände gebraucht.
Wir gingen nach Hause und brachten jeden einzelnen bis zur Haustür, wir wir es immer taten. Eine Anweisung unserer Eltern, möglichst viel in der Gruppe unterwegs sein. Dann würde weniger passieren können. Am Ende waren nur noch mein bester Freund und ich übrig. Mein Haus war näher als seines, also gingen wir zuerst zu mir. Ich verabschiedete mich von ihm und ging in die Wohnung. Solche Abschiede waren damals immer traurig für mich. Nach einem spaßigen Tag zurück in die  langweilige Zeit mit den Eltern. Zum Glück sollte es diesmal nur eine Nacht sein, da keiner von uns zu spät zuhause sein würde. Es waren noch etwa 150 Meter bis zu seiner Wohnung, keine Strecke, für die man 10 Minuten braucht.
30 Minuten später: Ich war bereits im Schlafanzug und aß gerade zu Abend. Da klingelte das Telefon. Meine Mutter ging ran. Am anderen Ende war die Mutter meines besten Freundes, sie wollte wissen, ob ich weiß wo er sei. Ich nahm das Telefon von meiner Mutter und sagte ihr, dass er vor einer halben Stunde nach Hause gegangen ist. Von dem, was wir am Tag erlebt haben, habe ich nichts gesagt. Ich wusste ja wie meine Mutter auf solche „Abenteuerspielplätze weit von zuhause entfernt“ reagieren würde.
Sie legte schließlich auf, und ihr „tschüss“ klang so, als würde sie anfangen zu weinen.
Ich machte mir keine Sorgen, ich war ja erst acht, da denkt man nicht, dass was passieren könnte.

Am nächsten Tag in der Schule blieb sein Platz leer. Meine anderen Freunde waren da. Wir dachten einfach nur, dass er krank ist. Sowas passiert schließlich. Nach der Schule wollten wir bei ihm vorbei, gucken wie es ihm geht.
In der dritten Stunde, wir hatten gerade Sachkunde, kam die Polizei in die Klasse.
In dem Moment dachte ich sofort, dass sie wegen ihm hier sind.
Sie sagten, dass er verschwunden ist und sie ihn suchen. Sie fragten uns, ob wir nicht irgend eine Idee haben, wo er sein könnte. Ich wollte den Polizisten gerade sagen, dass wir gestern im Wald waren und ein Tipi bauten, aber einer meiner Freunde hielt meinen Arm fest und flüsterte mir ins Ohr, dass es besser wäre wenn wir nach der Schule selbst nach ihm suchen. Sonst würden unsere Eltern uns noch verbieten wieder in den Wald zu gehen.
Es war dieser jugendliche Leichtsinn, den Polizisten es nicht zu erzählen. Wir  konnten uns einfach nicht vorstellen, dass irgendetwas schlimmes passiert sei. Wir dachten, er ist im Wald und baut das Tipi allein zu Ende.
Als die Schule endlich aus war, gingen wir, ohne vorher nach Hause zu gehen, zum Radweg, vorbei an der Ruine, vorbei an den Kunstwerken und weiter in den Wald. Dort, wo unser Tipi stand, stand nun ein normales Zelt, wie es sicher jeder schon mal beim Camping benutzt hat. Wir liefen sofort dahin in der Hoffnung ihn dort zu finden. Über die plötzliche Herkunft des Zeltes machten wir uns keine Gedanken. Ich erreichte das Zelt als Erster und schaute hinein, aber es war leer. Fast leer. Es waren nur eine Luftmatratze, eine Decke und, ich erschrak, die Mütze von meinem besten Freund im Zelt. Die Mütze, die er am Vortag nicht bei sich hatte, die ich aber im vergangenen Winter mehrfach auf deinem Kopf gesehen habe. Ich hob die Mütze hoch. Sie war schwer. In ihr war ein Stück Metall. Ein rotes Metall... Ich schaute genauer hin. Es war eine kleine Säge. Blutverschmiert, wie die ganze Innenseite der Mütze.
Ich schrie und sprang aus dem Zelt, die Säge und die Mütze gegen den nächsten Baum schleudernd. Die Anderen schauten auf die Säge und sahen sofort das Blut. Entsetzen lag in ihren Augen. In meinen wahrscheinlich auch. So etwas kannten wir nur aus unseren Albträumen.
Kurz darauf hörten wir seine Stimme, sie drang aus dem Teil vom Wald, der dem Radweg entgegengesetzt liegt. Sie rief meinen Namen, immer wieder, teils rufend, teils schreiend.
Ohne groß zu zögern folgten wir der Stimme tiefer in den Wald. Aber sie wurde nicht lauter. Wir kamen anscheinend nicht näher heran. Wir liefen eine ganze Weile, bis wir den Bach überquerten. Dort wurde die Stimme plötzlich laut, und aus ihr wurde ein Mark erschütternder Schrei, als wenn man ihm mit einer Säge... Nein, nicht das schlimmste vorstellen! Wir riefen ihn, wo er ist, was passiert, aber es kam nur ein weiterer Schrei zurück. Wir rannten, weiter in den Wald. Dann plötzlich stürzte der Boden unter uns ein. Wir fielen in einen unterirdischen Hohlraum, zwei bis drei Meter tief  und schlugen auf einen harten Betonboden auf. Ich blieb unverletzt, aber ich war natürlich geschockt. Ich erkundigte mich bei den anderen wie es ihnen geht. Auch sie blieben unverletzt, auch wenn ein schwerer Schock in ihrer Stimme lag. Wir schauten uns um. Es war ein Hohlraum, so groß wie eine Sporthalle, soweit wir sehen konnten. Die einzige Lichtquelle war das Loch, durch das wir gefallen sind. Es roch nach Benzin. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass dies ein Benzinlager der Zeche war.
Wir hatten alle Panik, wir waren eingeschlossen, konnten so gut wie nichts sehen, und hörten immer noch seine Schreie, und sie wurden immer lauter. Dort unten war er nicht, so gut es bei dem Licht erkennbar war. Nur wir waren da.
Ich versuchte, die anderen zur Ruhe zu bringen. Es musste einen weg hinaus geben. Doch es war keiner zu finden. Rechts und Links nur Betonwände ohne Öffnungen, ohne Türen. Es blieb nur ein Ausweg: Nach oben! Zum Glück waren wir alle sehr sportlich. Wir kletterten jeweils auf die Schulter des anderen und bildeten so einen Turm nach oben. Ich war der Leichteste, also ging ich nach ganz oben. Es war sehr wackelig aber der Turm hat trotz der Angst, der zitternden Beine gehalten. Bis ich an die Öffnung kam. Ich kletterte raus und genau in dem Augenblick, als sich mein Fuß von der Schulter des anderen löste, hörte ich unter mir den Turm einstürzen. Einer der fünf hatte sich dabei offensichtlich den Arm gebrochen, er weinte. Ich schrie runter, dass ich Hilfe holen gehe und wiederkomme. Auf jeden Fall.
Ich rannte los, wusste aber nicht wohin. Nach Hause, zu meinen Eltern, zur Polizei? Hauptsache Hilfe holen. Nach etwa 30 Metern blieb ich stehen. Ich hörte Schreie. Nicht den meines besten Freundes, diese waren schon vor Minuten verstummt, sondern Schreie der Anderen. Außerdem noch das Klirren von Metall. Es hätte eine Kette sein können, auch ein Schlüsselbund vielleicht. Aber das Positive Denken hatte ich schon aufgegeben. Ich lief zurück zum Loch und fragte, was los sei. Keine Antwort kam.
Ich fragte nochmal.
Keine Antwort.
Ich rief ihre Namen und merkte, wie ich anfing zu heulen. Meine Albträume wurden wahr.
Die vorher noch scheinende Sonne, die den Innenraum des Tankes zumindest ein wenig erleuchtete, versteckte sich nun hinter einer Wolke. Es war nur noch ein kleiner Fleck Beton zu erkennen. Keine Menschen waren zu sehen, keine menschlichen Geräusche mehr zu hören. Stille, nur ein seltsames, schleifendes Geräusch drang aus der dunklen, nach Benzin riechenden Kammer.
Ich rannte, rannte so schnell ich konnte. Sofort zur Polizei. Die Wache war näher als mein Haus.
Ich erzählte den Polizisten die Geschichte. Jedes Detail. Und ich merkte, wie seltsam die Geschichte war. Überraschenderweise glaubten sie mir und sie riefen die Feuerwehr und den Notarzt und wir fuhren zusammen zurück. Dort trafen wir auf die Rettungskräfte. Ich zeigte ihnen den Weg zum Loch.
Auf dem Weg dahin sah ich, dass Zelt und Säge mitsamt der Mütze verschwunden waren, aber das war in dem Moment nur Nebensache.
Als wir das Loch erreichten, stieg die Feuerwehr mit Seil und Taschenlampe hinab.
Als sie wieder hoch kamen, sagten sie, sie hätten niemanden gefunden. Der Tank hatte keine weitere Öffnung, also konnten sie keinen anderen Weg hinaus genommen haben. Das einzige, was die Feuerwehr mit nach oben brachte, war eine kleine, blutverschmierte Säge.
Die Polizei suchte noch wochenlang nach meinen Freunden. Ohne Erfolg. Keine Leiche, keinen Leichenrest. Nichts.
Es konnte nie geklärt werden, was passiert ist. Im Tank wurde nach Spuren vom Täter gesucht. Es wurden aber nur Spuren vom sieben Kindern gefunden.
Ich wollte es ab dann auch gar nicht wissen, was genau passiert ist.
Nach dieser Geschichte begab ich mich für zwei Jahre in psychologische Behandlung um dieses Schockerlebnis zu verarbeiten. Aber die Albträume plagen mich immer noch. Ich höre ihre Schreie aus einem dunklen Loch kommen. Wie sie meinen Namen rufen.
Ein Jahr nach dem Vorfall zogen wir ins Münsterland, weit weg vom Ort des Geschehens. Ich bin auf eine andere Schule gegangen und dann auf ein Gymnasium. Jetzt mache ich mein Abitur. Eins habe ich in der Zeit gelernt: Ich werde nie wieder in diesen Wald zurückkehren.

Sonntag, 3. Februar 2013

Koma

Alle Handlungen und Charaktere in dieser Geschichte sind frei erfunden. Der Verfasser ist nicht mit den Protagonisten der Geschichte gleichzusetzen und identifiziert sich nicht mit deren Denkweisen. Sollten Namen und Daten von Charakteren mit denen von real existierenden Personen übereinstimmen, ist dies reiner Zufall und hat keine Bedeutung.

I.

Von: 8894@web.de
An: bright.light@gmail.com

Liebe Janine

Wenn du das ließt, ist wahrscheinlich schon alles vorbei.
Ich weiß, dass du mich für das, was ich getan habe, auf ewig hassen wirst. Ich kann dich gut verstehen, wäre ich in deiner Situation würde es mir genau so ergehen. Aber es wäre dennoch vieles anders.
Ich möchte nicht, dass du mir diese Tat verzeihst, aber ich möchte, dass du verstehst, warum ich dies getan habe. Du kennst meine Situation. Ich habe es dir oft genug gesagt, wir haben so viele Stunden mit diesem Thema verschwendet. Zeit, die aus jetziger Sicht verschwendet war. Zeit, die wir beiden auch anders hätten nutzen können.
Ich weiß, wie viel du in diese Zeit investiert hast und bin dir unendlich dankbar für deine Mühen, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Du hast mir immer sehr viel bedeutet. Du warst der einzige Mensch in meinem Leben, dem ich mich öffnen konnte. Du warst die Einzige, die mich jemals beeinflusst hat. Und dennoch habe ich diese Entscheidung ganz alleine getroffen. Du hättest es nicht verhindern können.
Vielen Dank für alles.

In Liebe
Carsten


gesendet am 28. Mai um 09.28 Uhr

II.

Auszug aus einem Facebook-Chat vom 16. Mai:

Carsten: Danke für das Ding. Das scheint mir das Richtige zu sein
Mike: Bitte. Mir wurde gesagt, dass diese ideal für unser Vorhaben ist. Mit anderen könne man das nicht.
Carsten: ich bin mir auch absolut sicher, die ist gut. Habe noch 20 Kugeln, das reicht. Habe auch schon an Bierdeckeln geübt.
Mike: An Bierdeckeln?
Carsten: ja davon fliegen hier genug rum. Die bleibt erst beim 9. stecken, also sehr viel Power.
Mike: ist es nicht zu gefährlich wenn du übst, die Nachbarn könnten dich hören?
Carsten: nicht wenn ich innen Keller gehe.
Mike: okay, dein Leben, deine Entscheidung. Aber es wäre schon schön scheiße, wenn wir beide wegen deiner Schlampigkeit auffliegen. Denk an die letzten 2 Wochen wo wir jedes Detail geplant haben. Die Beschaffung war auch nicht leicht.
Carsten: Chill mal. Ich weiß was ich tu.
Mike: Gut gut, aber wehe du verpfeifst mich, wenn du erwischt wirst.
Carsten: Ruhig man, wieso sollte ich dich mit in die Scheiße ziehen?
Mike: Bei dir weiß man nie.
Carsten: Wir haben beide ein Ziel und nur weil du keine Eier in der Hose hast, bin ich derjenige der an der Front kämpft. Wenn ich versage sollst du die Chance haben deine Eier zu beweisen und DEINEN Plan zu Ende zu bringen.
Mike: Halt die Fresse. Aber recht haste, wenn du scheiterst muss ich mein Glück versuchen.
Carsten: nice
Mike: Gut, ich muss im Gegensatz zu dir noch Hausaufgaben machen, vorsichtshalber. Wir sehen uns morgen noch einmal, oder?
Carsten: ja, ich werde noch ein paar Tage zum Üben brauchen. bye

III:

Von: m.werner@tfg-schulen.de
An: s.schubrt@tfg-schulen.de


Sehr geehrte Frau Schubert,
Ich konnte Sie heute leider nicht persönlich kontaktieren, daher die E-Mail. Mit Sorge beobachte ich in den vergangenen Tagen das Verhalten meines Schülers Carsten Makobiak. (JG 11) Seit etwa vier Wochen, seit dem „Vorfall“ ist er nicht mehr der Alte. Während des Unterrichts ist er geistig vollkommen abwesend. Wenn man ihn anspricht, reagiert er entweder gar nicht, oder aggressiv. Er scheint kein Interesse für den Unterricht oder seine Mitschüler zu haben. Ich habe ihn gestern während der Pause beobachtet. Er saß einfach auf einer Bank und machte Notizen auf einem Collage-Block, ohne mit jemandem zu sprechen. Ähnliches Verhalten von ihm wurde mir aus dem Unterricht von einigen Kollegen mitgeteilt.
Zudem hat er in diesem Zeitraum anscheinend kein einziges Mal seine Hausaufgaben gemacht. Wenn es so weitergeht befürchte ich einen drastischen Leistungsabfall in den kommenden Klausuren.
Ich habe bereits versucht, die Eltern des Jungen zu kontaktieren, doch diese Befinden sich nach Aussage von Carsten seit knapp drei Wochen im Urlaub und wären angeblich nicht per Mobiltelefon zu erreichen.
Ich werde Sie morgen in Ihrem Büro aufsuchen, um über den Jungen zu beraten.

Mit freundlichen Grüßen

Maria Werner


gesendet am 26. Mai um 20.23 Uhr

IV.

Tweet von @cmak8894


Schule? Nicht mehr lange! Los gehts!


28. Mai 09.41 Uhr

V

WhatsApp-Nachricht von Mike Aldenhof an Carsten Makobiak:


Ganz normaler Unterricht. Dass du fehlst fällt keinem auf. Die Lehrer scheinen erleichtert. Sind froh dich nicht sehen zu müssen. Sie haben dich ja noch nie gemocht. Das werden sie bereuen. Wann fängst du an?


28.Mai, 8.29 Uhr

VI

SMS von Janine an Carsten:


habe gehört wie die lehrer über dich reden. Du machst ihnen sorgen, mir auch. Sag es ihnen doch endlich, sie können dir helfen, du brauchst dich nicht verstecken, niemand wird dich wegen depressionen auslachen. Glaub mir, es ist besser für dich, du schadest sonst dir und unserer beziehung.

Hdl Janine

gesendet am 26. Mai, 14.32 Uhr


VII


Brief der Schulleiterin An die Eltern der Schüler Mike Aldenhof und Carsten Makubiak,

Die Schulleitung hat sich dazu entschieden, von einen Strafverfahren wegen Drogenkonsums auf dem Schulhof gegen Ihre Kinder abzusehen. Dennoch werden Carsten und Mike wegen dem Verstoß gegen die Hausordnung für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen. Nach Ablauf der Suspendierung werden weitere Ordnungsmaßnahmen in Kraft treten.
Bitte füllen Sie die anliegende Bescheinigung aus, mit der Sie die Strafe akzeptieren, und schicken Sie sie uns innerhalb der nächsten sieben Tage per Post zu. Ansonsten werden wir Ihre Kinder der Schule verweisen müssen.

Mit freundlichen Grüßen

Silvia Schubert
Schulleiterin

29. März

VII

Tweet von @cmak8894:


3 auf einen streich! Kinder weg, Mensa leer


28. Mai 09.53 Uhr

VIII

WhatsApp-Nachricht von Carsten Makobiak an Mike Aldenhof:


Beginne in der dritten stunde. Sieh zu dass du bis dahin weg bist, hab mir was spezielles fürs big final liefern lassen.


28. Mai, 8.35 Uhr

IX

Beitrag von mikeAdf im Forum „rightround“ am 1. April


Hi Leute. Suche ein Mittel, mich an meiner Schule zu rächen. Ich will ihnen richtig wehtun. Hab gehört hier finde gibt es Leute die mir helfen könnten, an die nötigen Mittel zu kommen. Wäre schön wenn sich jemand bei mir meldet. Bitte per PN. Danke.

Mike

X

Auszug aus einem Facebook-Chat vom 11. April:


Mike: Ich hab eine Waffe. Ein Typ aus Norwegen hat sich auf meine Anfrage im Nazi-Forum gemeldet. Er meinte er habe eine und er könne sie mir für kleines Geld verkaufen.

Carsten: Willst du das wirklich durchziehen? Ich meine, wir haben wirklich Mist gebaut und wurden zu Recht suspendiert.
Mike: Na und? Die Schule behandelt uns doch allgemein wie Dreck. Wir dürfen dies nicht, dürfen das nicht, dürfen keine eigene Meinung haben und werden direkt bestraft, wenn wir mal was machen, was denen nicht gefällt. Das ist wie in Nordkorea! Da geht es jeden Knasti besser.
Carsten: Was du ja bald am eigenen Leib erfahren kannst.
Mike: Alter, hör auf, du verpfeifst mich nicht. Ich weiß, dass du genau so denkst wie ich, nur du hast Angst um deine Noten und um dein Ansehen bei den Lehrern, oder?
Carsten: Berechtigt!
Mike: Als du die Pillen geschluckt hast, hast du dir auch keine Gedanken um die Auswirkungen gemacht. Und ich hab gemerkt, es hat dir gefallen, das kannst du nicht bestreiten.
Carsten: Es war ein Fehler
Mike: Nein, du hast endlich mal das richtige gemacht. Endlich mal Spaß gehabt.
Carsten: Man kann auch anders Spaß haben.
Mike: Hattest du aber noch nie in deinem bisherigen Leben. Das bestand doch bisher nur aus Schlafen und Lernen, wie kann dir das Spaß machen? Garnicht!
Carsten: Nein.
Mike: Du bist ein Loser, Carsti, und wirst es auch immer bleiben, wenn du nicht endlich dein Leben änderst. Wenn du so weitermachst wirst du ein kümmerliches Leben haben, einsam, ohne Freunde und ohne je im Leben glücklich gewesen zu sein. Janine wird sich nicht ewig mit einem Kerl wie dir abgeben. Beim nächst Besten wird sie ihr Höschen fallen lassen, bevor du es jemals zu sehen bekommst, und du wirst einen einsamen Tod herbeisehnen!
Carsten: Hör auf!
Mike: Nein, hör du auf. Oder besser: Fang an mit deinem Leben! Zeige der Welt, dass du auch ein Mensch bist und versteck dich nicht hinter deinen Büchern.
Carsten: Als ob dein Leben so viel besser ist.
Mike: Ich habe Freunde und seit 2 Jahren eine Freundin. Mein Leben läuft so, wie ich mir das vorstelle. Ich bin glücklich und tu das was mir gefällt. Ich bin angesehen und mich respektieren die Menschen. Mein Leben ist einfach geil, und das kann niemand bestreiten.
Und du musst auch anfangen dein Leben zu leben. Nimm dir ein Beispiel an mir, dann wirst du deutlich weniger oft verprügelt oder verarscht.
Tu was ich sage und gemeinsam können wir uns beide an denen rächen, die dir Unrecht getan haben. Die uns unrecht getan haben. Was sagst du dazu? Bist du auf meiner Seite?

XI

Tweet von @cmak8828


verriegelt euch ruhig, entkommen könnt ihr nicht. 8 menschen erledigt, fehlen noch 12


am 28. Mai um 10.01 Uhr

XII

Nachricht von bedolf an mikeAdf via „rightround“-Forum


Hallo Mike.

Ich habe deine Beitrag in Forum gelesen. Haben vielleicht was für dich. Schicke dir Bilder dabei. Denke das ist das was du suchst. 20 Schuss ohne Nachladen. Schnell und einfach für Zielen. Absolut toedlich. Wenn Interesse melde dich. Preis ist Verhandlungssache, kann es dir billig geben, brauche nicht mehr.
Gruesse Andy

gesendet am 9. April

XIII

WhatsApp-Nachricht von Carsten Makobiak an Janine Funke:


Ich bin so durcheinander. Ich glaube mein Leben entgleitet mir. Ich möchte das alles hinter mir lassen. Die Angst scheint zu dominieren. Angst vor der Zukunft. Das möchte ich nicht mehr, die Vergangenheit war schlimm und es wird weiter so sein. Bitte hilf mir!


12. April, 15.26 Uhr

XIV

BILD-Newsticker, 28. Mai, 10.09 Uhr


In Recklinghausen ist ein bewaffneter Amokläufer in ein Schulgebäude eingedrungen. Nach ersten Informationen wurden mehrere Kinder getötet. Die Polizei hat die Schule abgeriegelt und jagt nun den Schützen.

XV

WhatsApp-Nachricht von Mike Aldenhof an Carsten Makobiak:


Deine Eltern sind ja im Mai im Urlaub oder? Kann ich dem Norweger deine Adresse geben, an die er die Waffe liefern soll?

Ich bezahle alles. Er wird persönlich vorbei kommen und sie dir bringen. Du musst ihm nur bestätigen, dass du es bist. Zeig ihm einfach diese Nachricht.

15. April, 22.19 Uhr

XVI

Tweet von @cmak8894


An jeden Bullen der eine Kugel in den Kopf will: Ich bin im Dritten Stock, habe den Physik-LK in meiner Gewalt!


28. Mai, 10.14 Uhr

XVII

SMS von Janine an Carsten


Waass machst du, hör auf! Lass die Menschen in Ruhe, gib auf, komm raus. Bitte. Ich will nicht, dass dir was passiert. Mach es nicht noch schlimmer. BIITTTTEE. Sonst komm ich persönlich hoch und hol dich daraus!


Gesendet am 28. Mai, 10.17 Uhr

XIIX

Von: s.schubrt@tfg-schulen.de
An: m.werner@tfg-schulen.de


Hallo Frau Werner,

Ich habe nochmal über unser heutiges Gespräch nachgedacht. Ich habe mich entschieden einen Psychologen zu kontaktieren und mit diesem morgen in der Pause zu Carsten zu gehen, und ihn zu einem Gespräch zu überreden. Sie haben Recht, dass es so nicht weitergehen kann. Wer weiß wie es weitergeht, was er noch macht. Nach der Sache mit den Drogen ist er nicht mehr der Alte, jetzt ist alles möglich.
Wir werden morgen in der 4. Stunde bei Ihnen im Unterricht erscheinen. Öffentlich könnte durch seine Klassenkameraden ein größerer Druck entstehen, über seine Probleme zu reden, auch wenn es für ihn unangenehm wird. Bitte sorgen Sie dafür, dass der Schüler zu der Zeit im Unterricht sitzt.
Ich finde es beschämend für unsere Schule, dass ein ehemaliger Einserschüler so tief fallen kann und ich hoffe sehr, dass wir die Situation mit professioneller Hilfe bereinigen können, bevor der Schüler und die Schule einen Imageschaden davontragen.

Mit freundlichen Grüßen

Silvia Schubert

gesendet am 27. Mai um 16.59 Uhr

XIX

von: bedolf@jordskj.no
an: 8894@web.de


Hallo Carsten,
Dein Freund Mike sagte mir dass du die Waffe bekommen sollst. Ich bin zur Zeit in Polen, komme naechste Woche nach Deutschland, dann werde ich dir bringen. Schreibe mir bitte deine Adresse.
Außerdem habe ich mehr für dich. Für deinen Akt. Jeder der was erreichen will muss was großes tun. Und ich hab was sehr großes für dich. Ein Freund hier hat sie gebaut. Eine Bombe. Wenn in Gebäude gezündet, absolute Zerstörung. Nichts bleibt stehen. Du wirst keine Zeit haben zu rennen, aber du wirst in Geschichte eingehen. Möchtest du haben? Dann sag mir bescheid. Details zur Bombe im Anhang. Ist kostenlos, ich will dich unterstuetzen.

Gruesse
Andy

gesendet am 2. Mai um 23.11 Uhr

XX


Tweet von @cmak8894



JANINE! NEIN! Warum bist du hochgekommen? Ich dachte du wärst eine Polizistin. Nein... Es tut mir so leid... was habe ich getan?

ENDE

28. Mai, 10.29 Uhr

XXI


Artikel der BILD:



Ein schrecklicher Amoklauf an einer Schule in Recklinghausen hat die Menschen im ganz Deutschland tief erschüttert. Ein 16-jähriger Schüler der Schule drang morgens während der Unterrichtszeit in das Schulgebäude ein und zündete kurz darauf eine gewaltige Bombe, tötete während seines Amoklaufes und durch die Explosion dutzende Menschen, hauptsächlich Kinder und Jugendliche.

Er war mit einer Luftpistole und einer Bombe unbekannter Herkunft bewaffnet. Der genaue Tatverlauf ist noch immer unklar. Nach bisherigen Ermittlungen ist der Schüler zu Beginn der dritten Unterrichtsstunde (etwa 9.40 Uhr) in die Mensa der Schule eingedrungen und hat dort drei Kinder erschossen.
Danach lief er durch die Schule, durch die Klassenräume, suchte gezielt nach seinen Opfern. Lehrer alarmierten sofort die Polizei und riegelten ihre Klassen ab. Bis zum Eintreffen der Polizei starben fünf weitere Menschen im Kugelhagel, davon vier Schüler und ein Lehrer.
Als die Polizei in das Gebäude eindrang verschanzte sich der Täter im Physikraum der Schule, nahm dort 11 Oberstufenschüler als Geiseln, drohte mit dem Tod aller Schüler und des Lehrers.
Die gleichaltrige Freundin des Opfers, ebenfalls Schülerin dieser Schule, versuchte die Polizei zu unterstützen und ihren Freund per Handy zum Aufgeben zu bewegen. Als sie ein persönliches Gespräch suchte, wurde sie vom ihm erschossen. Kurz darauf sprengte sich der Täter mitsamt seinen Geiseln in die Luft. Das Schulgebäude wurde bei der gewaltigen Detonation fast vollständig zerstört, auch Nebengebäude wurden beschädigt. Personen, die sich zur Zeit der Detonation im oder in unmittelbarer Nähe zum Gebäude aufgehalten, vor allem Polizisten und Lehrer, wurden durch Trümmer schwer verletzt oder getötet.
Schüler, Lehrer und Eltern werden zur Zeit von Psychologen betreut. Verletzte wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht.
Die genaue Opferzahl ist noch nicht bekannt. Ebenso wenig die Hintergründe der schrecklichen Tat, die für immer in den Köpfen der Menschen in Recklinghausen schweben wird.

28. Mai, 12.40 Uhr

XXII

Beitrag von mikeAdf im Forum „rightround“ am 29. Mai


Wir haben einen neuen Helden! Der Schüler Carsten Makobiak hat bei seinem Amoklauf gestern 76 Menschen getötet, davon 23 Muslime. Zudem hat er das Schulgebäude durch seine Bombe komplett zerstört und viele weitere Häuser im Türkengetto beschädigt. Hunderte Menschen wurden verletzt.

Ich bin stolz, dass ich meinen Teil dazu beitragen konnte.
Herzlichen Dank an einen Unterstützer aus Norwegen, der anonym bleiben möchte.
Wir alle sollten uns ein Beispiel an Carsten nehmen, der im Kampf für seine Überzeugung gestorben ist. Wir alle sollten dafür kämpfen, dass wir unsere Völker vom Abschaum befreien.
Gott sei mit Euch! Heil cmak!