Sonntag, 10. November 2013

Unsichtbare Schreie Teil 4

"Guten Morgen Konsi." Ich trat an ihn heran.
"Oh, guten Morgen Stefan. Was ist los, hast du auch verpennt."
"Nein. Aber schön wär's. Dann wäre ich nicht umsonst aufgestanden."
"Ist es denn schlimm, wenn du um 6 Uhr aufsteht, damit du um 8 in der Chemievorlesung sitzen kannst?" Er grinste mich an. "Ne im Ernst, ich schlaf auch lieber aus. Also, warum bist du umsonst aufgestanden?"
"Erzähl ich dir später an der Uni."
"Warum? Willst du schweigen bis die U-Bahn kommt?"
"Nicht wirklich, aber das muss nicht jeder hören, sonst versteht es noch jemand falsch."
"Komm schon, wir sind in Bochum. Wer hört dir hier zu?"
Ich zögerte. "Okay. Also, ich bin ganz normal früh aufgestanden. Habe den Bus genommen, den ich sonst auch nehme und erwische entsprechend auch den Zug, der mich überpünktlich in Bochum absetzt. Aber es kam, wie so häufig der Fall ist, zu einem Zwischenfall kurz vor Essen Hbf."
"Baum auf dem Gleis? Bombenentschärfung?", fragte Konsi.
"Nein, schlimmer. Selbstmörder."
"Oh, schon wieder?"
"Ja. Ich mein, wenn die unbedingt ihr Leben beenden wollen, von mir aus. Aber sollen sie sich doch irgendwo aufhängen. Dort, wo sie keinen anderen belästigen. Aber nein, er stellt sich ausgerechnet auf die Gleise, wenn mein Zug gerade vorbeifahren will."
"Kann ich verstehen, dass dich das nervt. Konnte der Typ rechtzeitig von den Gleisen geholt werden, bevor er überfahren wird?"
"Keine Ahnung. Der Zug hat jedenfalls über eine halbe Stunde gehalten, also denke ich schon, dass er runtergezerrt wurde. Ich hätte es auch eigenhändig gemacht, wenn man mich gefragt hätte.
Naja, es ist einfach schlimm, wenn du um 6 aufstehst, um dann eine Durchsage zu hören, dass du zu spät kommen wirst, weil du gefühlte 3 Stunden in einem stehenden überfüllten Zug sitzen musst."
"Wenigstens bist du jetzt hier. Ist ja auch egal, ob wir 15 Minuten zu spät sind. Juckt die Dozenten eh nicht."

Nach 3 Minuten fuhr die U-Bahn vor und wir stiegen ein. Wie üblich war sie überfüllt, so dass wir im Eingangsbereich stehen bleiben mussten.
"Also vorhin im ICE hat es mir besser gefallen.", sagte Konsi, während er sich im Wagon erfolglos nach einen freien Sitzplatz umschaute.
"Wieso ICE?", fragte ich.
"Bin doch leider etwas zu spät aufgestanden. Entsprechend war mein Zug weg, als ich am Bahnhof ankam. Auf der Anzeige stand aber immer noch, dass der nächste Zug der Regionalexpress ist. Also bin ich auch in den nächsten Zug eingestiegen. War aber anscheinend ein ICE."
"Ist ja auch nicht so, dass sich die Dinger von den normalen Zügen unterscheiden."
"Nein.", lachte er, "Dachte wenn die Bahn mal wieder einen kaputten Zug hat, lässt sie auch einen ICE auf einer Regionalstrecke fahren. Im Nachhinein betrachtet schon ein wenig blöd von mir. Aber sehr bequeme Sitze."
Nun lachte auch ich. "Und wie viel Strafe musst du bezahlen?"
"Das ist das Beste: Garnichts!"
"Hä? Haben die keine Kontrolleure?"
"Doch aber er hat mich eiskalt übersehen."
"Super, überhaupt nicht unfair. Ich darf auf wegen eines missglückten Selbstmörders warten, und du darfst umsonst ICE fahren."
"Und länger schlafen.", fügte er mit einem Grinsen hinzu. "Aber keine Sorge. Irgendwann gleicht sich das Leben wieder aus."

5 Stationen später machte der Fahrer der U-Bahn eine Durchsage:
"Sehr geehrte Fahrgäste. Wegen eines defekten Triebwagens vor uns müssen wir die Fahrt leider wir wenige Minuten unterbrechen. Vielen Dank für ihr Verständnis."
"Nein...", stöhnte ich und schüttelte den Kopf.
"Nicht verzweifeln,", sagte Konsi, "es geht doch gleich weiter."
"Schön wär's. Eine Station vor der Uni nochmal zu warten, muss wirklich nicht sein."
Ich schaute mich im Wagon um und sah ähnliche Reaktionen. Studenten, die ungeduldig auf die Uhr oder aus dem Fenster schauten. Beschwerden über die Unzuverlässigkeit von Bus und Bahn. Aber auch gleichgültige Reaktionen. Menschen mit zu lauten Kopfhörern, aus denen Avici und Aloe Blacc drangen. Eine Frau, die verzweifelt versuchte ihr Baby ruhigzustellen. Andere, die ungestört von Musik und Geschrei eine Zeitung lasen.
Zur Zufriedenheit der meisten Fahrgäste setzte die Bahn wie versprochen ihre Fahrt nach wenigen Minuten fort, so dass sie zwei Minuten darauf die Universität erreichte.

Als wir im Hörsaal für Chemie ankamen, war die Vorlesung zur Hälfte vorbei. Zu unserer Überraschung schienen recht wenige die Überwindung gehabt zu haben, früh aufzustehen. Gerade mal 30 Leute saßen, meist in den hinteren Reihen, um dort, so schien es, ein wenig Schlaf nachzuholen.
Wir gingen in die Mitte des Hörsaals, wo Timo und Pascal saßen, ohne dass Herr Gemel uns, oder die Schläfer der letzten Reihe, beachtete.
"Guten Morgen.", sagte Timo, "Wo wart ihr?"
"Erzählen wir euch später.", antwortete ich, "War irgendwas wichtiges?"
"Nein, nur Wiederholung von den Quantenzahlen. Was wir letztes Mal schon angefangen hatten.", sagte Pascal.
Dabei blieb es auch. Die nächsten 10 Minuten genau das, was am Tag zuvor besprochen wurde, sowie vor 2 Jahren in der Schule, nur nochmal vertieft. Ich konnte den nicht anwesenden keinen Vorwurf machen. Jede Minute die verging, entfernte ich mich in meinen Gedanken weiter von diesem Hörsaal. Wünschte mir, dass mein Wecker nie geklingelt hätte, und überlegte, ob man die beiden Freistunden, die auf diese Einzelstunde folgten, zum Schlafen nutzen könnte.
Dann riss das Klingeln eines Handys mich und fast alle anderen aus den Tagträumen. Reflexartig griff ich in die Hosentasche, um das Handy auszumachen. Andere taten es mir gleich. Doch Herr Gemel machte kein Geheimnis daraus, dass es sein Klingelton war, und nahm den Anruf an.
Gemurmel und leises Lachen kam auf im Hörsaal. Ich konnte Gesprächsfetzen wie "Das habe ich aber noch nie gesehen." oder "Ob er auch so reagiert, wenn wir telefonieren?" aufschnappen. Nach einigen Sekunden unterbrach Herr Gemel das Gemurmel und teilte mit, dass er den Saal kurz verlassen müsse. Er stieg die Treppen herauf und verschwand, ließ Laptop und Notizen zurück, um zu zeigen, dass auch wir bleiben sollen.
Wir nutzten die Gelegenheit, um Pascal und Timo über die Ereignisse des Morgens zu informieren und ernteten Gelächter, sowie Mitleid und Glückwünsche zum erfolgreichen Schwarzfahren.
Währenddessen leerte sich der Hörsaal weiter. Herr Gemel blieb weg.
10 Minuten vor dem regulären Schluss der Vorlesung, wir vier waren mittlerweile als Einzige übrig, entschieden auch wir zu gehen. Wir packten alle unsere Sachen ein und gingen hoch zur Tür.
"Können wir seine Sachen hier alleine lassen?", fragte Timo und deutete auf den Laptop unten an der Tafel.
"Denke schon.", antwortete Konsi, "Alle Hörsäle sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Hier klaut niemand. Und wenn doch, wäre er schön blöd."
Pascal erreichte als erster die Tür, drückte die Klinke runter. Aber die Tür bewegte sich nicht.
"Drücken.", sagte ich.
"Mach ich doch.", antwortete Pascal, "Aber sie bewegt sich nicht.
"Gib mal her." Konsi nahm die Klinke, aber auch er scheiterte. "Verdammte Scheiße, hat jemand die Tür versperrt? Mal die andere Tür versuchen."
Auf dem Weg zur anderen Seite des Hörsaals gingen die Lichter aus. Auch der Beamer stellte seinen Betrieb ein. In dem fensterlosen Raum war der Laptop die einzige Lichtquelle. Diese hatte kaum Auswirkung auf unsere Seite, die andere Seite des Raumes, also holten wir unsere Smartphones heraus.
"Wieso ist jetzt der Strom weg?", fragte Pascal.
"Vielleicht die Sicherung.", antwortete Konsi, "Kann sein, dass die im Nebenraum einen Kurzschluss..."
Er wurde von einem lauten Schrei unterbrochen, der von der anderen Seite der Tür hinter uns kam. Deutlich hörbar, die Stimme eines Mädchens, das in Todesangst schreit.
Wir rannten zur anderen Tür, wollten nachsehen, dem Kind helfen. Bevor wir die Tür erreichen konnten, fiel Pascal vornherüber, riss beinahe Konsi mit und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. An seinem Hals sahen wir etwas rot glühendes Hängen. Erst nach Sekunden, in denen wir dachten, er steht sofort wieder auf, realisierten wir, was dies für ein Objekt war: Eine Gabel, eine glühende Gabel.
Der Geruch nach verbrannter Haut war wahrzunehmen und anstelle des Schreis hörten wir nun das Geräusch von Fleisch auf dem Grill. Nur war es kein Steak, es war Pascal. Sein Fleisch, sein Knochenmark.
Wir versuchten noch die Gabel zu entfernen. Um uns nicht zu verbrennen, fassten wir sie nur mit unseren Schuhen an. Aber als es uns nach bangen Sekunden gelang, war es zu spät. Pascal war tot, seine Wirbelsäule durchtrennt von einer Gabel wie Lava. Aus dem Loch in seinem Hals floss kein Blut. Auch sonst sah sein Körper, obwohl er vor weniger als einer Minute noch normal war, aus wie eine Figur von Madame Tussaud's. Ich versuchte noch den Notarzt zu rufen, doch im Hörsaal war kein Empfang.
Der Schock über dieses plötzliche Ereignis saß so tief, dass wir uns nicht von der Stelle rührten. Die Frage nach dem Wie und Warum interessierte nicht. Wir standen nur da, und schauten auf den toten Körper auf dem Boden, bis uns ein weiterer Schrei aufweckte. Dieser kam diesmal von unten. Aus dem Vorbereitungsraum, zu dem eine Tür am unteren Ende des Hörsaals führt. Es war kein Schrei eines Mädchens, es war die Stimme von Pascal. Unmöglich, wir konnten unseren toten Freund vor uns liegen sehen. Dennoch rannte Timo die Treppen herunter, rief seinen Namen und rüttelte an der Tür. Sie öffnete sich nicht.
"Nein Timo, er ist es nicht. Komm hoch, wir müssen hier raus.", rief Konsi. Obwohl seine Stimme nicht wirklich überzeugend war, schien er eine Gefahr erkannt zu haben. Der Stromausfall, der Schrei, der plötzliche Tod von Pascal durch eine glühende Gabel. Dinge, die sich nicht erklären lassen. Ein weiterer Schrei. Innerhalb von Minuten wandelte sich die Welt.
Timo reagierte nicht auf die Rufe, er rüttelte weiter an der Tür. Der Schrei war inzwischen verstummt. Sekunden vergingen, in denen Konsi und ich versuchten, Ordnung in das Geschehen zu bringen. Doch dann gelang es Timo, die Tür zu öffnen und es schien für einen Moment so, als würden wir aus einen Alptraum erwachen. Timo betrat den Raum, wir anderen rannten hinunter zu ihm, zum möglichen Ausgang. Bevor wir den letzten Treppenansatz erreichen konnten, trat Timo wieder in den Hörsaal. Rückwärts, einen Schritt, noch einen. Dann fiel er um, wie Pascal Augenblicke zuvor. Ein letztes leises Stöhnen und dann Stille. Wir blieben auf der Treppe, Meter von ihm entfernt, stehen und sahen im schwachen Licht des Notebooks, wie der Kopf von Timo in einem unnatürlichen Winkel vom Körper weg zeigte, durchbohrt von einem länglichen Gegenstand, der an beiden Seiten mehrere Zentimeter aus dem Schädel ragte.
Jetzt realisierten wir und reagierten so schnell wir konnten. Konsi schloss die Tür zum Vorbereitungsraum, als ein weiterer Schrei, diesmal wieder ein Mädchen, aus dem Nebenraum drang, und versperrte sie mit einem Besenstiel so gut er konnte. Daraufhin rannten wir auf die andere Seite des Raumes, zur anderen Treppe, die zum letzten potentiellen Ausweg führte. Konsi war schneller, überholte mich, als ich die erste Treppe erreichte und stürmte vorbei. Ich versuchte dran zu bleiben, doch stolperte in der Dunkelheit und stieß mir dem Kopf an der Kante. Für einem Moment blieb ich benommen liegen. Bis ein weiter Schrei ertönte. Vor mir. Leiser. Konsi. Ich hörte ihn stürzen, ein paar Treppen herunterrutschen, und dann stumm liegen bleiben.
Es war kein Blick nötig, um zu erkennen. Es war vorbei. Auch für mich. Irgendetwas ist hier, es hat drei Menschen getötet und ich bin der Nächste. Zu rennen ist sinnlos, alle Auswege sind versperrt. Ich blieb auf der Treppe liegen, schloss meine Augen, während Blut aus der Wunde an meinen Kopf tropfte, und wartete auf einen hoffentlich schnellen und schmerzlosen Tod. Einen Schrei, der ihn ankündigt, der die letzten Sekunden zur Hölle werden lässt. Ich wartete, kein Schrei. Trügerische Ruhe. Dann waren Schritte zu hören, die von oben kamen, von der Eingangstür. Meinen baldigen Mörder trennten noch 15, vielleicht 20 Schritte von deinem nächsten Opfer. Er blieb kurz stehen, schaute sich noch mal um. Wahrscheinlich um sich das Bild einzuprägen, wie ich wehrlos da liege.
Er betrat die Treppe, einen Schritt, noch einen, langsam stieg er herab.
Die Sekunden vor dem Ende schwirrten mir die Geschehnisse des Morgens durch den Kopf.
Hätte der Wecker nicht geklingelt, wäre ich nicht hier, würde ich zuhause im Bett liegen, oder schon am Frühstückstisch sitzen.
(Schritte)
Der Selbstmörder auf den Gleisen würde mir morgen oder übermorgen in der Zeitung begegnen. Der wartende Zug wäre leerer gewesen.
(Schnelle Schritte)
Das ist die Essenz, wegen der man lebt. Die einfachen Dinge genießen. Hin und wieder ausschlafen können, Stressfrei durch den Pendelverkehr kommen, ohne Unterbrechungen.
(Noch schnellere Schritte)
Wake me up when it's all over... Es ist vorbei. Es gibt kein Aufwachen mehr. Kein Ausschlafen, nur Schlaf, für immer.
(Ein letzter Schritt)
Nun stand er direkt vor mir. Ich spürte seinen Fuß an meinem Kopf und rechnete nun mit einem Schmerz. Doch das nächste, was meine betäubten Sinne wahrnahmen, war eine Stimme.
"Stefan, alles in Ordnung? Was ist passiert, bist du verletzt?"
Das kann nicht sein, dachte ich.
Er bückte sich und klopfte mir auf die Schulter.
"Was ist los? Komm, steh auf!"
Obwohl ich meinen Ohren nicht traute, hob ich meinen Kopf und schaute der Person ins Gesicht, zu der auch die Stimme passte: Herr Gemel.
Ich brachte keinen Ton heraus. Wo kam er her? Wieso ist das Licht wieder an? Um mich umzusehen, richtete ich mich in eine bequemere Position auf und schaute, auf den Knien hockend, hinter Herr Gemel und sag zu meiner Überraschung keine Leichte von Konsi. Auch die Wunde an meinem Kopf war verschwunden.
"Du scheinst ja unverletzt zu sein, obwohl du ziemlich blass bist", sagte Herr Gemel, "aber wieso liegst du hier rum?"
"Wo sind die anderen?", fragte ich, ohne auf seine Frage zu reagieren.
"Sag du es mir. Wahrscheinlich sind gegangen, als ich nicht zurückkam."
Ich stand auf und schaute mich um. Auch die Leichen von Timo und Pascal sind verschwunden. Der Besen steht in der normalen Ecke und nirgendwo ist eine Gabel zu sehen.
Meine Beine zitterten, also setzte ich mich auf den nächsten Sitz.
"Wo waren Sie die ganze Zeit?", fragte ich.
"An meinem Auto, jemand ist mir hinten rein gefahren." Ich reagierte nicht. "Geht es dir wirklich gut?"

Was passierte, warum ich auf der Treppe lag, verschwieg ich, und schob mein krankes Aussehen auf eine Grippe. Herr Gemel begleitete mich nach draußen. Vor dem Hörsaal ging alles seinen gewohnten Gang. Niemand schien etwas gesehen oder gehört zu haben. Alles war normal.
Wir gingen zusammen bis zum U-Bahnhof, redeten kaum miteinander, warum auch? Nur als er vor dem Hörsaalgebäude über eine kleine Säge stolperte und sich beschwerte, dass sowas hier nichts zu suchen habe, schaute ich ihn kurz an. Als die U-Bahn kam, verabschiedeten wir uns und er wünschte mir gute Besserung. Ansonsten blieb ich in meinen Gedanken versunken.
Über das, was ich erlebte, verlor ich nie mehr ein Wort. Konsi, Timo und Pascal tauchten nie wieder auf. Sie waren verschwunden.


Montag, 8. Juli 2013

Lötkolben

“Ich frage Sie ein letztes Mal:”, sage ich, “haben Sie den Mann ermordet?”
Dieses Spiel ging bereits seit Stunden. Immer wieder löcherten wir den Verdächtigen mit Fragen. Immer wieder hat er uns eiskalt ignoriert oder in einer Sprache beantwortet, die meine Kollegin und ich nicht beherrschten. Einen Dolmetscher konnten wir zu solch später Stunde nicht mehr erreichen, also mussten wir ihn weiter ausquetschen.
Der Mann ist etwa 40 Jahre alt und stammt seinem Aussehen zu Folge aus Indien. Er ist am frühen Morgen dabei beobachtet worden, wie er einen Mann brutal umgebracht hatte.

Es war etwa 3 Uhr am frühen Sonntag morgen als das Opfer, offenbar angetrunken, auf dem Weg nach Hause durch die Innenstadt von Recklinghausen. Eine Zeugin, eine Frau Mitte 20, lief in einigen Metern Distanz hinter ihm her. Sie war auf dem Rückweg von einer Geburtstagsfeier, hatte etwas getrunken und war mit den Gedanken woanders, daher sind die folgenden Beschreibungen unsicher und Lückenhaft.
Am Marktplatz blieb der Mann stehen, wartete einige Sekunden und drehte sich zur Seite um. Von dort kam eine Stimme, der Mann antwortete brüllend und lief in die Gasse aus der die Stimme kam, während die Zeugin in die andere Richtung abbog. Hinter sich hörte sie in den folgenden Minuten mehrfach Männerstimmen auf einer fremden Sprache rufen. Mal lauter, mal leiser. Mal näher, mal weiter entfernt. Die Quellen der Stimmen konnte die Zeugin nicht ausmachen.
Am Busbahnhof, am anderen Ende der Innenstadt, traf die Zeugin erneut auf das Opfer. Er war wieder allein unterwegs, saß stocksteif auf der Bank und blickte in die Nacht hinein. Über mehrere Minuten bewegte er sich keinen Zentimeter, selbst als es anfing zu regnen nicht.
Als unsere Zeugin in ihren Bus stieg, kam gerade ein anderer Mann zum Bussteig des Opfers, das nicht reagierte. Dieser Mann wurde später als Tatverdächtiger identifiziert.

Zehn Minuten danach wurden beide Männer zusammen von einem anderen Zeugen am Marktplatz beobachtet. Sie saßen auf dem Boden, redeten leide miteinander.
Als der zweite Zeuge den Platz verließ, hörte er hinter sich einen Schrei, den er aber keinem der beiden Männer zuordnete, sondern eine Frau. Er kehrte zurück, stellte fest, dass beide Männer verschwunden sind. Nirgends war eine Frau zu sehen.

Gegen 4 Uhr morgens beobachtete ein dritter Zeuge am Busbahnhof einen Streit zwischen dem Opfer und dem Tatverdächtigen. Mehrere weitere Passanten waren anwesend, ignorierten den Streit aber. Es soll nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen sein.

Um halb fünf kam es zum Mord auf dem Rathausplatz. Ein Passant, der sich zur Zeit des Verbrechens in der Nähe befand, hörte vom Rathausplatz seltsame Geräusche und Schreie. Er reagierte schnell und eilte zum Platz. Dabei kam ihn der Inder entgegengerannt, mit einem Messer in der Hand und nacktem Oberkörper.
Als der Zeuge in Sichtweite des Rathausplatzes kam, bemerkte er die Leiche des Mannes am Brunnen liegen. Seine Kehle war aufgeschnitten, der Oberkörper hatte mehrere tiefe Stichwunden und das linke Bein war zur Hälfte abgetrennt.

Nach einem Aufruf der Polizei Recklinghausen über soziale Netzwerke konnten die anderen Zeugen ermittelt werden. Am Abend wurde der Verdächtige am Marktplatz aufgefunden und zur Befragung ins Präsidium gebracht. Er war mit einer Frau unterwegs.

Nun ist es fast Mitternacht. Seit 5 Stunden stellen wir Fragen. Ohne Antwort. Der Mann will weder zugeben, dass er der Täter ist, noch dass er unschuldig ist.

“Was machen wir mit ihm?”, fragt meine Kollegin außerhalb des Verhörraumes.
“Wenn er nicht redet, nützt er uns nichts.”, sage ich. “Wir haben keine Beweise, dass er wirklich der Mörder ist. Die Zeugenaussagen belegen zwar, dass er mit dem Opfer unterwegs war, aber mehr nicht.”
“Was ist mit der Tatwaffe? Wurde diese bereits gefunden?”
“Ich habe vor einer Stunde telefoniert. Nein, die Suche in der Nähe des Tatorts hat nichts ergeben. Es gibt auch keine Spuren an der Leiche, die unseren Kumpel hier belasten würden.”
Kurzes Schweigen.
“Ich glaube, wir müssen ihn gehen lassen, bis wir den Wohnungsdurchsuchungsbeschluss haben.”, sage ich. Ich sah meiner Kollegin an, dass sie enttäuscht war.
“Gut.”, sagte sie. “Ich werde ihn herausführen.”
“Und ich werde nochmals telefonieren.”
Ich gehe zum Telefon, um mich nochmals wegen der Wohnungsdurchsuchung zu erkundigen, kann aber niemanden erreichen. Als ich auflege, höre ich vor dem Gebäude einen Schrei. Den Schrei meiner Kollegin.
Ich renne sofort raus.
Sie steht mit erschaudertem Gesicht am Treppenabsatz und starrt auf die Figur am Boden:
Der Verdächtige! Seine Augen und sein Mund sind weit aufgerissen. Seine zitternden Hände fahren an deinem Hals entlang. Genauer gesagt am Fremdkörper, der in seiner Kehle steckte. Erst nach Sekunden erkenne ich, dass es ein Lötkolben ist.
Bevor ich reagieren kann, erschlafften seine Hände und fallen zu Boden. Sein offener Mund füllt sich mit Blut und er starrt mit leeren Augen in den Nachthimmel.
Ich steige die Treppen herab, schaue mit Entsetzen auf den leblosen Körper zu meinen Füßen. Sekunden später höre ich neben mir ein Geräusch. Es ist der Körper meiner Kollegin, der zu Boden fällt, während ihr Kopf einen halben Meter zur Seite rollt.
Erst realisierte ich garnicht, was passiert ist. Dann stehe ich mit gezückter Waffe da, schaue mich auf der Straße um. Keine Menschen zu sehen, alle Fenster sind Dunkel, kein Auto. Ich blicke zur Seite und sehe, wie ein Hammer genau auf meinen Kopf zu fliegt.

Freitag, 28. Juni 2013

Unsichtbare Schreie in der Schule

Psycho-Killer findet neues Opfer

Polizist auf der Jagd nach dem Verbrecher brutal ermordet
Vor 10 Jahren wurde eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt, als ein Unbekannter eine Gruppe Grundschulkinder in eine Falle lockte und wahrscheinlich auf grausame Weise tötete. Die genauen Umstände konnten bis heute nicht geklärt werden. Nur eines der Kinder überlebte diesen Tag, muss aber den Rest seines Lebens mit den mentalen Folgen leben.
Vor ein paar Tagen wurde der Wald, in dem das Verbrechen geschah wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht(wir berichteten). Auch der Täter kam zurück. Im Waldstück wurden Hinweise gefunden, dass dieser ein neues Opfer sucht. Daraufhin hat sich ein Polizist alleine auf die Lauer gelegt, um den Mörder am Tatort zu stellen. Für seinen Alleingang musste der Recklinghäuser mit seinem Leben bezahlen. Der Mörder hat ihn entführt und umgebracht. 
Vor zwei Tagen erreichte die Polizeizentrale ein Paket vom Mörder, das Leichenteile und das Tagebuch des Polizisten enthielt, in dem der Ablauf des Verbrechens dokumentiert.
Die Polizei sucht nun mit Hochdruck nach dem Mörder. Eltern wird geraten ihre Kinder abends nicht mehr alleine auf die Straßen gehen zu lassen, da zu erwarten ist, dass er erneut zuschlägt. 
„Wir tun alles was in unserer Macht steht um den Menschen ihre Sicherheit zurückzugeben!“, sagte ein Polizeisprecher im Interview mit dieser Zeitung. [...]

Matthias schlug die Zeitung zu, legte sie zur Seite und wendete seinen nachdenklichen Blick aus dem Fenster.
Zur Zeit des ersten Mordes war Matthias gerade auch acht Jahre alt. Mit einem der Opfer war er sogar zusammen im Kindergarten, daher hat er natürlich den Trubel in den Medien und bei den Menschen mitbekommen. Seine Eltern ließen ihn und seinen zwei Jahre älterer Bruder für Monate nicht mal alleine zur Schule gehen, so besorgt waren sie. So ging es vielen Eltern, und auch Lehrer waren in den Pausen besonders aufmerksam, da ja niemand wusste, wie der Mörder das angestellt hat und ob sich das nicht jederzeit wiederholen kann.
Und nun hat es sich wiederholt. Nur, dass diesmal ein Erwachsener das Opfer war.
Matthias' Vater betrat die Küche und setzte sich neben ihn an den Frühstückstisch.
„Guten Morgen, Junge.“
„Morgen Papa. Hast du das mit dem Polizisten gehört?“
„Welcher Polizist?“
„Der, der hier an der Zeche ermordet wurde. Es soll der Täter gewesen sein, der vor 10 Jahren die Kinder abgeschlachtet hat.“
Der Vater füllte seine Tasse mit Kaffee und trank einen Schluck.
„Wähle bitte einen anderen Ausdruck als 'abgeschlachtet'. Ein bisschen Respekt sollte schon sein. Aber ja, ich habe davon gehört. Haben die gestern in den Nachrichten gebracht.“
„Und was hältst du davon?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der gleiche Täter ist, wie beim letzten Mal. Das ist 10 Jahre her, wie du schon sagtest. In dem Zeitraum hätte es andere Opfer gegeben, wenn es ein Wiederholungstäter ist.“
„Kann doch sein, dass es welche gab. Es werden doch immer wieder Menschen vermisst gemeldet und nicht wieder gefunden. Er muss ja nicht in Recklinghausen geblieben sein, so dass kein Zusammenhang zu damals hergestellt wurde.
„Kann ich mir aber eigentlich nicht vorstellen. Dann hätte man doch diese Sägen gefunden, die doch angeblich sein Markenzeichen sein sollen.“
„Vielleicht hat er diese Säge nur einmal verwendet, und hat dies nun wiederholt, weil das Verbrechen am gleichen Ort geschehen ist?“
„Glaube ich nicht. Das war sicherlich ein Trittbrettfahrer, der eine Hysterie wie damals auslösen wollte, was er anscheinend auch geschafft hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass es diese 'Los Kanakos'-Typen waren. Die haben in letzter Zeit so viel angestellt.“
„Aber ermordet haben sie noch niemanden.“
„Das muss doch nichts heißen.“
„Ja, aber ich denke das ist der gleiche Täter. Und er wird wieder zuschlagen.“
„Wann? In 10 Jahren? Nein, ich lass mich nicht wieder verrückt machen so wie damals. Wenn du das willst, von mir aus, aber für mich ist das Thema gegessen.        
Ist deine Mutter schon bei der Arbeit?“
Matthias war ein wenig verärgert, dass sein Vater die Situation nicht ernst nahm. Aber er wollte sich nicht mit ihm streiten, da er wusste, dass sein Vater sich nicht von ihm beirren lässt.
„Ja, sie hat nur eben schnell Frühstück gemacht und ist dann vor etwa 30 Minuten aus dem Haus gegangen.“, antwortete Matthias.
„Okay. Und was hast du heute vor? Gehst du deinen Bruder besuchen?“
„Nein, ich muss zur Schule.“
„An einem Samstag?“, fragte der Vater verwirrt.
„Ja, ich bin doch in dieser Projektgruppe, mit der wir an diesem Wettbewerb teilnehmen, und da wollen wir uns heute treffen um weiterzuarbeiten.“
„Ist zwar seltsam so kurz vor den Sommerferien aber na gut. Kann sicher nicht schaden. Wann musst du denn da sein?“
Matthias schaute auf seine Armbanduhr und entschied, dass er weiteren Gesprächen mit seinem Vater aus dem Weg gehen wollte.
„Ich muss jetzt los.“, antwortete er, trank seinen Kaffee aus, stand auf und verließ den Raum. Dabei rief er seinem Vater noch zu: „Bin zum Mittagessen wieder hier.“ Und kurz darauf hat er das Haus verlassen.
Auf dem Weg zur Schule beobachtete er die Menschen. Sie gingen alle schneller als sonst und allgemein waren weniger Menschen auf den Straßen als an einem normalen Samstag Vormittag. Vor allem Kinder waren kaum zu sehen. Die Spielplätze waren verwaist, nur ein kleines, türkisches Mädchen saß auf der Schaukel, während ihre Mutter auf der Bank wie ein Erdmännchen die Umgebung scannte.
Polizisten gingen zu zweit Streife und hielten jeden an, der verdächtig wirkte. Ein Bauarbeiter, der eine Säge mit roten Farbspritzern bei sich trug wurde gleich von insgesamt fünf Polizisten umringt und versuchte fast schon panisch die Polizisten von einem unglücklichen Zufall zu überzeugen.
'Wenn es nur ein Trittbrettfahrer war und es keine weiteren Überfälle gibt', dachte Matthias, 'warum sind dann alle Menschen so besorgt?'
Auf den letzten Metern zur Schule dachte er weiter über den Mord nach. Seit dem letzten Abend wollte ihm diese Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Als er an der Schule ankam, sah er auch schon das Auto von seinem Lehrer Herr Winsiewski, sowie das Auto von Heiko und das Fahrrad von Lukas. Sonst war niemand in der Schule.
'Zum Glück sind die immer so früh dran, sonst dürfte ich draußen stehen und warten.' dachte er und ging zum Haupteingang im Nordosten der Schule.
Die Schule war quadratisch aufgebaut und bestand aus vier Stockwerken. Die Flure waren außen an den Seiten, während die Klassenzimmer nach innen zum Innenhof der Schule angebracht waren. Die Treppenhäuser waren in den vier Ecken des Quadrates.
Der Raum, wo sich die Projektgruppe traf, war im 3. Stockwerk an der Nordseite.
Matthias betrat die Schule. Der Haupteingang war der einzige, der geöffnet war. Wie immer, wenn es außerschulische Veranstaltungen gab.
Er ging, noch immer in seinen Gedanken bei dem Verbrechen, die Treppen nach oben und hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.
Als er den ersten Stock erreichte hörte er von rechts plötzlich einen Schrei.
Er fuhr zusammen und wäre vor Schreck fast die Treppen runtergefallen, aber er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten.
Der Schrei war nicht laut, aber in einer hohen Tonlage, wie ein kreischendes Kind. Er riss Matthias aus seinen Gedanken in die Realität.
Matthias' Herz raste. Mit zitternden Schritten ging er auf den Gang zu, aus dem der Schrei kam.
„I-Ist da jemand?“, rief er zögernd.
Es kam keine Antwort und es war niemand zu sehen. Die Räume waren alle verschlossen, ebenso die Tür, die den Ost- vom Südflügel trennt.
Er blieb eine Minute stehen, aber es rührte sich nichts.
Unsicher was er wahrgenommen hat, setzte er, immer noch mit erhöhtem Puls, seinen Weg nach oben fort. Diesmal allerdings deutlich schneller als zu Beginn.
Als er den Raum erreichte, wurde er freundlich empfangen:
„Grüß dich, Matthias!“, sagte Herr Winsiewski und musterte ihn. „Was ist los, du bist so blass?“
„Er hat letzte Nacht zu lange gezockt.“, scherzte Lukas.
„Nein,“, sagte Matthias, „ich hab nur vorhin... ich hab mich erschreckt.“
„Vor was?“
„Da war etwas im ersten Stock. Es hat geschrien. Aber ich hab niemanden gesehen.“
Wisniewski runzelte die Stirn und schaute ihn an. Lukas saß neben Heiko in der anderen Ecke des Raumes und spottete weiter gegen Matthias: „Von zu viel World of Warcraft bekommt man Halluzinationen, weißt du doch.“
„Ich denke auch, dass du dir das eingebildet hast.“, sagte Wisniewski. „In der Schule ist niemand.“
Matthias war sich selbst nicht mehr sicher, was er denken sollte. War es real oder hat er sich so viele Gedanken über den Mord gemacht, dass er schon davon halluziniert? Er wusste es nicht, aber er beschloss die Sache zu vergessen und fing an den anderen bei der Arbeit am Pendel zu helfen.
„Wer kommt denn noch alles?“, fragte er später als Herr Winsiewski zum Baumarkt gefahren ist.
„So viel ich weiß nur noch Benny, wenn er aus Essen zurückkommt.“, antwortete Heiko und schaute kurz auf die Uhr. „Eigentlich müsste er gleich kommen. Gut so, vier Leute sind zu wenig um das Ding zusammenzubauen.“
Fünf Minuten später, Herr Winsiewski war noch nicht zurückgekehrt, klopfte es an der Tür.
„Tür ist offen, komm rein.“, rief Heiko, der gerade die Bauanleitung studierte.
Die Tür blieb geschlossen und es klopfte erneut.
„IST OFFEN!“, schrie Heiko diesmal, aber wieder betrat keiner den Raum und es klopfte erneut.
„Will Benny mich verarschen?“ Heiko legte die Anleitung zur Seite,  ging zur Tür und trat hinaus. „Wieso klopfst du dauernd und kommst nicht einfach...“
Er schaute auf den Flur, aber es war niemand zu sehen.
„Benny?“ Er trat auf den Flur und ging ein paar Meter in jede Richtung.
Als er zum Physik-Raum zurückkehrte, fragte Matthias:
„Was war da los, wer hat geklopft?“
„Anscheinend Niemand. Zumindest ist keiner auf dem Flur.“
„Vielleicht wollte uns jemand ärgern.“, warf Lukas ein.
„Wer denn?“, fragte Heiko.
„Irgendeine AG oder so.“
„An einem Samstag? Außerdem weiß doch keiner, außer Herr Winsiewski und Benny, dass wir hier sind.“
„Doch, der Sohn von Herr Winsiewski.“
„Glaubst du im ernst, dass er extra hierhin kommt, um seinen Vater zu ärgern? Außerdem war keiner auf dem Flur.“
„Komisch. Erst der Schrei, jetzt das...“, murmelte Matthias mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Sie machten sich schweigend wieder an die Arbeit. Bei der Sache waren sie aber nicht, da jeder eine Antwort auf diese Frage suchte. Bis Herr Wisniewski durch die Tür kam.
„Na, Benny immer noch nicht da?“
„Anscheinend nicht.“, sagte Matthias nach kurzem zögern.
„Er kommt sicher gleich, steht im Stau oder so. Kommt einer von euch mit runter zum Auto, um den Sand hochzutragen?“
„Mach ich.“, sagte Lukas und verließ mit Herr Winsiewski den Raum.
Kurz darauf fragte Heiko: „Wollen wir Herr Winsiewski nicht von dem Klopfen erzählen? Vielleicht hat er jemanden gesehen.“
„Ich denke das hätte er uns gesagt, wenn jemand in der Schule rumläuft. Und nein, das mit dem Schrei hat er mir ja auch nicht geglaubt.“
„Stimmt, du hast ja einen Schrei gehört, ganz vergessen. Hängt das vielleicht zusammen?“
„Wie denn?“
„Wie Lukas schon sagte, vielleicht will uns jemand ärgern. Oder uns Angst machen. Jetzt wo der Killer....“
Ein weiterer Schrei, der diesmal vom Flur vor dem Physikraum kam, ließ ihn verstummen. Ein Schrei einer bekannten Stimmt.
„Lukas!“
Heiko rannte raus und sah vor der Tür den verstümmelten Körper von Lukas liegen. Der rechte Arm fehlte und überall war Blut. Weiter den Flur entlang lag Herr Winsiewski, ebenfalls in einer Blutlache.
„Scheiße.“
Er rannte zu ihm hin und brauchte nicht lange um die Situation zu erkennen. Er riss das Schlüsselbund aus der leblosen Hand, rannte zurück zum Physikraum und schloss Matthias und sich ein. Schwer atmend, fast schon keuchend setzte er sich auf den nächsten Stuhl und Matthias brauchte nicht lange, um an seinem Gesichtsausdruck die Situation zu erkennen. Ein fragender Blick und Heikos entsetztes Nicken bestätigten seine Vermutung. Er holte sofort sein Handy raus und wählte die Nummer der Polizei. Doch ein Blick auf das Display verhinderte es.
„Kein Empfang.“
Angst verhinderte weitere Gespräche. Sie wussten, sie waren gefangen. Im Flur lief der Mörder herum und wenn sie durch das Fenster gingen, würden sie nach drei Stockwerken schutzlos und immer noch gefangen im Innenhof landen. Die einzige Möglichkeit war, dass sie dort warten, bis jemand vorbei kommt.
„Benny!“, brach es nach langem Schweigen aus Matthias heraus. „Wenn er kommt, läuft er dem Mörder in die Arme.“
Heiko schaute ihn mit unverändertem Gesichtsausdruck an.
„Und was willst du dagegen machen? Wenn du rausgehst, um ihn zu warnen, bist du genauso tot.“
Er hatte leider Recht. Entweder Benny oder alle. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Oder?
Ein Kratzen an der Tür unterbrach seine Gedanken.
„Er steht vor der Tür.“, flüsterte Heiko. In seiner Stimme lag deutlich die Todesangst.
„Aber er kann nicht rein. Das ist eine Sicherheitstür und er hat ja nur.... eine Säge.“, stammelte Matthias und versuchte vergeblich dabei beruhigend zu klingen.
Das Kratzen hielt an. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Fünfzehn ohne Unterbrechung. Im Raum saßen Matthias und Heiko in der hintersten Ecke unter einem Tisch. Ohne zu reden, ohne irgendein Geräusch zu machen.
Halbe Stunde. Immer noch das Kratzen. Zwischendurch hörte es immer wieder für einige Sekunden auf, aber gerade als sie sich Hoffnungen machte, setzte es wieder ein.
Eine Stunde. Das Kratzen ist verstummt. Schon seit einigen Minuten. Aber sie saßen in der gleichen kauernden Position auf dem Boden, als es plötzlich klopfte.
Sie zuckten zusammen. Matthias entfuhr ein kleiner Schrei. Die Tür öffnete sich und Benny betrat den Raum. Er sah die Gesichter von Matthias und Heiko und fragte:
„Was ist denn hier los?“
Nach kurzem Schweigen antwortete Heiko.
„Wie bist du hier rein gekommen? Wo ist Er?“
„Durch die Tür! Meinst du Winsiewski?“
„Hast du ihn draußen nicht gesehen? Mit Lukas?“, fragte Heiko verwundert.
„Was, nein, wieso? Sind die eben rausgegangen?“
Heiko stand verwundert auf und ging mit zitternden Knien auf den Flur hinaus.
Tatsächlich. Nichts. Keine Leiche, kein Blut. Kein Killer.
Keine Kratzer an der Tür.
Er schaute auf sein Handy. Empfang.
„Was ist hier passiert?“, fragte Benny, als er Heikos Gesicht nach der Inspektion gesehen hatte.
Heiko erzählte ihm die Ereignisse der letzten Stunden, während Matthias die Polizei rief. Als diese eintraf, wiederholten sie die Geschichte.
Nachbarn sagten später aus, dass sie Niemanden die Schule betreten oder verlassen sahen. Daraufhin durchsuchte die Polizei das Gebäude und fand im ersten Stock auf der Ostseite die Leiche eines kleinen, türkischen Mädchens, dass erst vor wenigen Minuten als vermisst gemeldet wurde. Neben dem Körper lag die Säge.
Lukas und Herr Winsiewski blieben verschwunden.
Heiko und Matthias haben daraufhin die Schule gewechselt, ebenso wie Benny und viele weitere Schüler, vor allem jüngere. Das Ende der Schule ist nahe.