Donnerstag, 29. November 2012

Tür zum Dachboden

Sie stieg die Treppe hinauf. Die Treppe, die sie sonst nicht hinauf stieg. Sie führte zu dem Ort, den sie in den letzten Jahren gemieden hat wie eine Regenwolke die Sahara. Es war der Ort, an dem vor vielen Jahren ihr Vater unter bislang ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Damals war sie gerade mal acht Jahre alt.
Sie hat die Meldung von Tod ihres geliebten Vaters in der Schule bekommen. Es war die dritte Stunde Mathe, sie weiß es noch genau. Sie saß gerade an einer Rechenaufgabe als sie per Durchsage die Mitteilung erhalten hat, Anja möge bitte zum Büro des Schulleiters gehen. Natürlich folgte darauf eine Salve von fragenden und spöttischen Blicken ihrer Klassenkameraden, die sich fragten, was passiert sei. Anja selbst wusste es auch nicht. Als sie das Büro erreichte fand sie dort ihre 15-jährige Schwester vor, in Tränen aufgelöst, von ihrem ehemaligen Schulleiter gestützt.
Dieses Bild, wie ihre Schwester die schrecklichen Worte aussprach, hat Anja in den folgenden Jahren immer wieder im Traum verfolgt.
Am selben Nachmittag erfuhr sie von der Mutter, dass diese den Vater leblos auf dem Dachboden gefunden hat. Mit gebrochenem Genick.
Offiziell ist er im Dunkeln gestolpert und unglücklich aufgekommen, aber es bestanden immer Zweifel an der Todesursache.
Seit dem hat Anja den Dachboden nicht mehr betreten. Zu sehr schmerzte der Gedanke, an dem Ort zu sein, wo der erste Mann den sie liebte umgekommen ist.

Doch nun hatte sie keine andere Wahl mehr. Sie war mittlerweile 22 Jahre alt und verlobt. Sie ist eigentlich schon lange von zuhause ausgezogen, aber nun muss sie zurück in ihr Elternhaus, da ihre Mutter nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Anjas Schwester lebt und arbeitet mittlerweile in Amerika, hat also keine Möglichkeit die Mutter zu pflegen.

Anja stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Dachboden. Ihr verlobter Mike direkt hinter ihr. Oben war es stockfinster. Die Fenster waren seit dem Tag des Unfalls verdunkelt, eine Tat ihrer Mutter. Anja tastete nach dem Lichtschalter, doch die Glühbirne war schon lange durchgebrannt.
„Hier.“, sagte Mike und reichte ihr eine Taschenlampe.
Sie schaltete sie ein und leuchtete durch den Raum. Es sah genau so aus wie in ihren Erinnerungen aus glücklichen Kindertagen. An den Wänden rechts und links stapelten sich Kisten, gefüllt mir allerlei Dekorationsgegenständen, Büchern und alten Spielsachen. Auf dem Boden lag noch mehr desgleichen, dazu noch eine dicke Staubschicht und jede Menge undefinierbarer Kleinteile. Wer hier im Dunkeln herumgeht, wird schnell den Boden küssen.
Zum Glück hatte sie eine Taschenlampe.
Sie ging durch den Raum, schaute in Kartons, drehte mit ihrem Fuß Gegenstände auf dem Boden um. Mike tat es ihr auf der anderen Seite des Raumes gleich. Anja wusste genau wonach sie suchte. Sie hat noch deutlich das Bild im Kopf. Es war ein Kerzenständer, den ihre Eltern vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt erstanden haben. Von einem Bekannten und Kunstsammler wurde ihnen ein Foto eben jenes Gegenstandes gezeigt, den er suchte und der mehrere Tausend Euro wert war. Anja hat ihn sofort erkannt. Sie selbst hat kein Einkommen, ebenso wie Mike studiert sie. Sie leben von einem Nebenjob von Mike in einem Lebensmittelladen und von der Rente der Mutter. Daher durften sie sich die Chance auf diese Zusatzeinnahmen nicht entgehen lassen.

Sie streifen mehrere Minuten lang durch den Raum und schauten in jede Kiste.
„Er muss doch irgendwo hier sein, da bin ich mir sicher.“, sagte Anja immer wieder. Und immer wieder folgte ein zustimmendes Nicken von Mike.
Nach fast einer halben Stunde sagte dieser schließlich:
„Wir haben jetzt überall geguckt, er ist nicht hier. Lass uns verschwinden, dieser Ort macht dich unglücklich.“ Er legte seine Hand auf ihre Schulter in der Hoffnung sie zur Rückkehr bewegen zu können, doch sie hatte mittlerweile andere Pläne. Ihr Blick war auf ein Buch fixiert, dessen goldener Einband aus einer bereits von Mike durchsuchten Kiste herausragte.
„Was ist das? Das kenne ich nicht.“, sagte sie.
Sie schaute auf das Cover, wo sie aber nur Schriftzeichen einer ihr unbekannten Sprache entdecken konnte. Mike nahm es ihr aus der Hand und sah es sich an. Er versuchte es zu öffnen, doch die einzelnen Seiten waren wie aneinander geleimt.
„Hilf mir es zu öffnen.“, sagte er zu Anja. Sofort nahm sie eine Karte aus einem Kartenspiel vom Boden und steckte sie zwischen die Seiten, in der Hoffnung der Kleber würde sich lösen.
„Funktioniert nicht.“, sagte Mike. „Wir müssen was anderes versuchen.“
Wie im Bann nahm er einen auf dem Boden liegenden Löffel und versuchte das Buch aufzuhebeln. Anja starrte dabei die ganze Zeit auf das Buch, als würde sie einen lupenreinen Diamanten vor sich haben.
Nach einer Minute des Drückens flogen die Seiten des Buches auseinander. Mike, mittlerweile vor Anstrengung keuchend, fiel dabei auf den Boden, stand aber sofort wieder auf als Anja das Buch aufhob und auf die Seiten starrte.
Alle Seiten des Buches waren leer. Stattdessen fing das Buch an in einem blassen Grünton zu leuchten. Das Leuchten wurde stärker, als Anja mit der Hand die aufgeschlagene Seite streichelte.
Als Mike seine Hand auch auf die Seite lag, ließ ein heftiger Windstoß die Dachbodentür zufallen, die Taschenlampe erlosch. Das Licht des Buches erfüllte den ganzen Raum. Mike und Anja erwachten aus ihrer Trance, ließen das Buch fallen und wichen mehrere Schritte zurück. Erst jetzt erkannten sie, was sie die letzten Minuten machten. Beide rannten zur Tür, hämmerten dagegen, wollten sie öffnen, doch sie bewegte sich kein Stück. Wie fest geleimt. Anja rannte panisch zum Fenster, wollte es öffnen, aber auch dieses bewegte sich nicht. Mike versuchte es einzuschlagen, vergebens.
„Was geht hier vor?“, kreischte Anja.
Angsterfüllt griff Mike zu einem herumliegenden Stück Holz und schlug damit auf das Buch ein, und wieder und wieder und wieder. Nach dem siebten Schlag gab er auf, das Buch war unversehrt. Stattdessen fing das Holz an plötzlich auf den Kopf von Mike einzuschlagen. Einmal, zweimal, dreimal,.... Mike stöhnte bei jedem Schlag vor Schmerz, jeder Schlag war heftiger als der vorherige, nach jedem Schlag stöhnte er lauter. Er versuchte das Holz abzuwehren, doch keine Chance, er hatte seine Arme nicht unter Kontrolle und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ebenso Anja. Sie konnte sich nicht bewegen und musste schreiend und mit Tränen in den Augen zusehen, wie Mike nach dem siebten Schlag bluten auf dem Boden zusammenbrach und kein Geräusch mehr von sich gab. Das Stück Holz, dass sein Schicksal besiegelte, fiel auf den Boden und blieb dort liegen.
Anja schluchzte und wollte zum regungslosen Körper ihres Verlobten stürmen, als sie plötzlich von einem heran fliegenden Kerzenständer am Kopf getroffen wurde. Ein Knacken der Knochen und sie blieb regungslos neben ihrem Verlobten am Boden liegen.
Das Licht des Buches erlosch, es schloss sich, die Taschenlampe fing an zu leuchten und ein leichter Windzug öffnete die Tür zum Dachboden.

Montag, 26. November 2012

Scheidung

Hendrik

„Hast du schon wieder Dreck in die Wohnung geschleppt? Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass du deine Schuhe draußen ausziehen sollst, wenn es regnet!
Hallo? Hörst du mir überhaupt zu? ICH REDE MIT DIR!“

War mir egal. Diese Sprüche musste ich mir schon seit Wochen anhören. Nur dass es immer unterschiedliche Gründe für das Geschrei gab.
Wir haben uns vor drei Wochen getrennt, nachdem wir sieben Jahre verheiratet waren. Die Scheidung ist schon eingereicht, aber dieser Papierkram dauert halt ein wenig. Im Grunde bin ich sehr froh darüber, dass nun endlich Schluss ist. Die letzten anderthalb Jahre waren für die Katz. Wir liebten uns nicht mehr, dass wussten wir beide. Wir lebten nur noch zusammen, weil wir die Gesellschaft des anderen schätzten. Wir hatten nicht den Mut uns einzugestehen, dass die Liebe verblasst ist. Zudem hatte ich nicht das Geld, um mir eine eigene Wohnung zu kaufen. Schließlich hatten wir das Haus erst vor ein paar Jahren gekauft, und es war noch lange nicht abbezahlt. Leider läuft es auf ihren Namen, da sie als Oberärztin in der Uni-Klinik mehr verdient als ich.
Damals bin ich extra aus der Eifel nach Berlin gezogen, weil Sarahs Eltern hier wohnten. Ihre Mutter saß im Rollstuhl und ihr Vater konnte sie nicht alleine Pflegen. Sarahs Schwester wohnt in Kalifornien. Daher ist Sarah die einzige, die sich um ihre Mutter kümmern konnte.
Zum Glück muss ich diesen Besen nie wieder sehen. Sie ist das typische „Schwiegermonster“-Klischee.
Damals, als wir uns liebten, war das alles kein Problem für mich. Ich ließ Freunde und Verwandte im Stich und ging mit nach Berlin. Außer meiner Ex und ihre Familie kannte ich niemanden. Zum Glück fand ich schnell einen Job bei der Sparkasse. Auch wenn ich meinen alten Job in der Uni vermisse.
Aber bald bin ich ja wieder zuhause. Nur noch ein paar Tage in der Drachenhöhle und dann geht es zurück in die Eifel. Meinen Job habe ich schon gekündigt, heute war mein letzter Arbeitstag. Nachher fahre ich rüber, werde die Nacht bei meinem Bruder verbringen und mir am nächsten Tag die neue Wohnung ansehen. Ein guter Freund von damals fährt mich, da „mein“ altes Auto leider auch ihr gehört. Dass die Liebe einen so blind macht....

Ich ging an Sarah vorbei, direkt nach oben ins Gästezimmer, wo seit unserer Trennung mein Schlafzimmer war. Alles, was ich im Laufe der Jahre gekauft habe, und all das, was Sarah nicht mag, liegt jetzt dort herum und macht es mir reichlich schwer ins Bett, bzw. in den Schlafsack zu gehen. Einmal bin ich nachts auf einen Bilderrahmen getreten, der auf dem Boden lag. Danach hatte ich eine blutende Wunde im Fuß.
Ich hab Sarah natürlich nicht darauf angesprochen, diesen Triumph gönne ich ihr nicht.
Als ich oben ankam, fing sie wieder an zu schreien:
„Hendrik, dein Bruder Janis hat angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass du ein Arsch bist!“
Ich verdrehte die Augen. Typisch Sarah!
„Sonst noch etwas?“, rief ich zurück.
„Nichts wichtiges, nur dass er ein Zimmer im Mühlenhof für dich gebucht hat, da in seiner Baracke riesige Ratten sind. Etwa so groß wie du.“
„Aha. Dann rufe ich gleich mal seine LIEBENSWERTE Lebensgefährtin an, und sag sie soll ihm gute Besserung wünschen.“
„Ratten“ war ihr Codewort für „Krank“. Da sie panische Angst vor kleinen Säugetieren hat und deshalb sogar mal ein Behandlung war, hat ihre Mutter sie immer geärgert, in dem sie, wenn sie krank war immer gesagt hat, dass sie eine Ratte hat. Diese Ausdrucksweise hat sie übernommen und bezeichnet jeden der Krank ist als „Ratte“.
Muss ich also im Hotel pennen. Was solls, überall ist es besser als hier. Der Mühlenhof war zwar früher nicht das Luxus-Hotel, aber für eine Nacht reicht es. Außerdem wird es jetzt im Spätherbst schön leer sein, so dass ich meine Ruhe hab.
Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte nochmals, ob ich für meinen „Kurzurlaub“ alles eingepackt hatte. Da mir nichts einfiel, was ich vergessen haben könnte, nahm ich den Koffer und einen Regenschirm, zog meine Jacke wieder an und ging wieder nach unten. Zwar würde Benny erst in zwei Stunden kommen, aber da ich nicht erwarten konnte von Sarah noch eine warme Mahlzeit zu bekommen, wollte ich mich nochmal bei meinem Lieblingsitaliener blicken lassen.
Als ich die Haustür öffnete kam Sarah mit einem Putzlappen in der Hand aus der Küche gestürmt und brüllte: „Wo willst du hin? Dein Typ kommt frühestens um Vier.“
„Ich hab Hunger. Das was du auf die Teller legst, kann man ja nicht mal essen, wenn man besoffen ist.“
„Musst du ja wissen“
„Jedenfalls gehe ich zu Antonio, 'ne Pizza auf den Schock.“
„Welcher Schock? Dass du im Hotel wohnen musst?“
„Ich meine eigentlich den Anblick deiner Visage, aber von mir aus.“
Sie lief rot an und warf ihren Putzlappen in meine Richtung. Aus Reflex wehrte ich den eigentlich harmlosen Lappen mit dem Regenschirm ab. Dabei stieß ich aus versehen eine Blumenvase um, die auf den Boden fiel und zerbrach. Ich merkte erst, dass dies das Erbstück von Sarahs Großmutter war, als sie mich voller Verachtung ansah.
Ohne nachzudenken rannte ich aus dem Haus Richtung Pizzeria ohne auf den Regen zu achten. Hinter mir hörte ich Sarah toben: „ICH VERFLUCHE DICH, HENDRIK SCHWEINEHIRN! Warte bis du wiederkommst, du ARSCH. Dann wirst du es BEREUEN!“

Als ich aus ihrem Blickwinkel raus war, verlangsamte ich meinen Schritt und spannte den Regenschirm auf. Das letzte Mal, als ich ein Erbstück von ihr zerbrochen habe, durfte ich eine Woche auf dem Sofa schlafen. Und damals haben wir uns noch geliebt. Ich wollte nicht wissen, was jetzt passieren würde.
Als ich so die Straßen entlang ging, dachte ich darüber nach, ob ich Berlin nicht vermissen werde. Der Park, in dem ich früher immer mit meinem Hund Lukas spazieren gegangen bin, bis er gestorben ist. Der Kiosk, wo ich mir jeden morgen die Zeitung gekauft habe und mir für die Wartezeit noch eben ein Rätselheft gekauft habe. Das Einkaufszentrum, wo mir Sarah immer mein Portemonnaie leergekauft hat, und natürlich, als ich dort ankam, die Pizzeria.
Ich ging hinein und Antonio begrüßte mich sofort.
„Hendrik! Wie schön dich noch einmal zu sehen! Wie geht es dir? Wie läuft es mit deiner Frau?“
„Hallo Antonio. Alles bestens. Sarah ist wie immer unausstehlich, aber mittlerweile weiß ich, wie ich sie ignorieren kann.“
„Das freut mich. Das Übliche?“
„Aber klar doch.“
„Sehr gut. Setz dich, dauert noch etwas.“
Er verschwand in der Küche. Ich zog meine Jacke aus, stellte den Schirm in den Schirmständer und setzte mich an einen Tisch.
Außer mir waren nur drei weitere Gäste im Restaurant. So war es schön ruhig, dass ich ohne Probleme die Sudokus lösen konnte.

Benny

Immer dieser Verkehr! Es war schon kurz nach 5 Uhr als ich endlich in Berlin ankam. Hendrik hatte mir vorher gesimst, wo er auf mich wartet, da es anscheinend wieder Krach zwischen ihm und Sarah gegeben hat. Zum Glück ist es endlich vorbei zwischen den beiden. Die paar Mal wo ich sie besucht habe, fand ich Sarah sehr unsympathisch. Ich weiß nicht warum, aber es gibt eben Menschen, die nicht miteinander klar kommen.
Als ich im Restaurant ankam, wo Hendrik auf mich wartete, wurde ich genervt, aber freundlich empfangen.
„Na endlich! Schön dass du da bist.“ Er stand auf und trat mit einen Lächeln an mich heran.
„Hallo. So, wir sollten los, du kannst nur bis 10 Uhr einchecken. Ansonsten musst du draußen schlafen. Du weißt, meine Frau hat gerade Läuse...“
„Ja, ich weiß, die Arme. Dann los, ich will ein Bett.“
Er ging zum Tisch zurück, suchte seine Sachen zusammen, nahm den Koffer und einen Regenschirm aus dem Ständer und wir gingen zur Tür. Dort blieb er nochmal kurz stehen:
„Ciao Antonio, ich komme nächste Woche nochmal auf einen Abschiedswein vorbei. Wir sehen uns.“

Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Auf den ersten Kilometern unterhielten wir uns ein wenig. Aber viel zu sagen hatten wir uns nicht. Ich wusste durch unsere regelmäßigen Skype-Telefonate, dass ihn die Situation mit Sarah sehr belastet. Und er wusste, dass es bei mir zuhause auch nicht perfekt war. Ich glaube er wusste auch, dass diese „Läuse“ nur erfunden waren, da meine Frau ihn nicht leiden kann. Ich war ihm aber sehr dankbar, dass er nicht näher auf das Thema einging.
Als wir dann Berlin verließen, sprachen wir gar nicht mehr. Ich musste mich auf das schnelle Fahren konzentrieren, und er war mit seinen Gedanken wahrscheinlich wieder bei Sarah. Er gestand es sich selbst zwar nicht ein, aber ich glaube er hat sie immer noch geliebt.

Jedenfalls musste ich ganz schön Gas geben. In weniger als 5 Stunden von Berlin in die Eifel ist nicht so einfach. Vor allem bei Regen. Auf der Hinfahrt bin ich schon an mehreren Unfällen mehr oder weniger gut vorbeigefahren. Hoffentlich passierte diesmal nichts.

Um Halb 10 passierte es dann: Wir waren gerade durch Köln durch als wir in einen Stau gerieten.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, schimpfte Hendrik. „Jetzt kommen wir ganz bestimmt nicht mehr rechtzeitig am Hotel an.“
„Vielleicht lassen die dich ja trotzdem rein.“, sagte ich aufmunternd.
„Können wir nur hoffen.“
Während wir im Stau standen und warteten, hörten wir nebenbei Radio. Dort machten sie auch eine Durchsage zum Unfall, der den Stau verursacht hat. Sie meinten, dass ein Fahrer einer großen, dunklen Gestalt ausweichen wollte, die plötzlich auf der Fahrbahn stand. Dabei ist er gegen die Leitplanke gefahren und liegen geblieben.
„Deswegen sollte man ab Steuer keine Drogen nehmen.“, sagte Hendrik. „Oder siehst du hier irgendwo eine dunkle Gestalt?“ Ich schaute aus den Fenstern. Im Licht der vielen Scheinwerfer war keine Gestalt zu erkennen. Nur die Regentropfen.
„Nein, da ist nichts. Aber vielleicht war der Mann auch einfach übermüdet.“

Eine halbe Stunde später hatten wir den Stau hinter uns gelassen. An der Unfallstelle sahen wir, wie der verängstigte Fahrer mit zwei Polizisten redete. Er schien sehr von seiner Erscheinung überzeugt gewesen zu sein.
Kurz zuvor rief Hendrik mit meinem Handy im Hotel an. Zwar musste er vorher die Auskunft anrufen, aber die 6 Euro hat er mir zurückgegeben. Im Hotel werden sie auf ihn warten, sagte die Frau an der Rezeption. Zum Glück. Sonst hätte er bei mir im Auto schlafen müssen.
Eine weitere halbe Stunde später fuhren wir über Landstraße durch einen Wald. Bis zum Hotel waren es nur noch wenige Kilometer. Hendrik war schon halb am schlafen, als ihn plötzlich ein dumpfes Geräusch weckte. Es hörte sich so an, als wäre jemand auf das Autodach gesprungen. Vor Schreck kam ich kurz von der Spur ab, aber glücklicherweise war die Straße leer.
„Ach du scheiße, was war das denn?“, fragte Hendrik erschrocken.
„Keine Ahnung.... Es kam vom Dach...“
In dem Moment hörten wir ein weiteres Geräusch. Es war als würde etwas den Lack auf dem Dach zerkratzen. Etwas war auf dem Auto.
„Was ist das?“, brüllte ich.
„Vielleicht ein Waschbär?“, sagte Hendrik ohne sich sicher zu sein.
Wir waren nervös. Wir hatten keine Ahnung was da war.
„Halt an, ich steig aus und schau nach was da ist.“, sagte Hendrik.
Ich hielt am Straßenrand und Hendrik löste seinen Gurt.
„Sei vorsichtig, du weißt nicht was das für ein Tier ist. Es könnte dich angreifen.“ In dem Moment hörte das Kratzen auf.
Wir tauschten nochmal einen Blick aus, dann öffnete er die Tür, stieg aus und schaute auf das Dach.
Sein nervöser Blick wich schnell einem erleichterten.
„Es ist weg. Komm raus, sieh dir das an.“
Auch ich stieg aus dem Auto und schaute aufs Dach. Dort waren sieben parallel verlaufende, mehrere Dezimeter lange Kratzer im Lack.
„Mein Auto... Was war es, und wo ist es jetzt?“
Wir schauten uns um, konnten aber kein Tier entdecken. Zu hören war auch nichts, außer dem Wind in den Bäumen und einem Auto in der Ferne.
„Unheimlich.“, sagte ich. „Lass uns lieber weiterfahren.“
Wir stiegen wieder ein und fuhren los.
Den Rest der Fahrt blieben wir ruhig und lauschten nach weiteren Geräuschen. Aber es passierte nichts mehr.
20 Minuten nach unserem Zwischenstopp kamen wir am Hotel an. Es lag ein wenig abseits unseres Heimatortes am Rand eines Waldes. Es war ein altes, zweistöckiges Gebäude, in dem früher eine Mühle war. Hinter dem Haus fließt ein kleiner Fluss. Dort hängt auch noch das alte Mühlrad. Im Erdgeschoss befindet sich heute ein Restaurant, im zweiten Stock mehrere Fremdenzimmer.
Ich hielt auf dem Parkplatz vor dem Hotel, wo noch drei andere Wagen standen.

Hendrik


„Dann mal Danke für die Fahrt hierhin.“, sagte ich.
„Kein Problem, wir sind doch Freunde.“, antwortete Benny und grinste mich an. Ich stieg aus und holte meinen Koffer aus dem Kofferraum.
„Ich hol dich dann Morgen so gegen 10 Uhr ab. Dann fahren wir zu der Wohnung.“
„In Ordnung. Gute Heimfahrt und grüß Annika von mir. Hoffentlich verschwinden die 'Tierchen' bald.“
„Ja, werde ich ihr ausrichten. Gute Nacht!“
„Gute Nacht“. Ich schloss den Kofferraum und Benny fuhr los, die Straße Richtung Dorf.
Ich ging mit meinem Koffer zur Eingangstür. Dort hinter brannte noch Licht, also war die Frau noch da.
Ich öffnete die Tür und ging hinein. Die Rezeption war nicht besetzt, scheinbar war die Frau im Hinterzimmer. Ich klingelte und wartete kurz.
Keiner kam.
Ich klingelte erneut.
Wieder nichts. Dann sah ich auf dem Tresen eine Nachricht liegen. Daneben ein Zimmerschlüssel. Ich las:

„Guten Abend Herr Kelleser,
Dies ist Ihr Zimmerschlüssel. Sie haben Zimmer 11. Frühstück ist morgen ab Halb 8. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.
Y. Hunter

Ich war ein wenig überrascht, dass sie mir den Zimmerschlüssel nicht persönlich überreicht hat, aber besser so als gar kein Zimmer. Ich nahm den Schlüssel und stieg die Treppe hinauf in die erste Etage. Oben angekommen stand auf einmal ein kleiner Junge vor mir.
„Huch!“ Ich ließ vor Schreck meinen Koffer fallen, der dann mit lautem Poltern die Treppe hinunterfiel.
Der Junge, vielleicht 8 Jahre alt trug einen schwarzen Anzug mit schwarzer Hose und weißer Krawatte. Alle Sachen schienen ihm viel zu groß zu sein und ließen ihn irgendwie unmenschlich wirken. Er starrte mich emotionslos mit seinen kleinen, olivgrünen Augen an.
„Was machst du denn so spät noch hier? Wo sind denn deine Eltern?“
Das Kind gab keine Antwort. Er starrte mich nur weiter mit seinem hypnotisierenden Blick an.
„In Ordnung. Ich geh nur eben meinen Koffer holen, dann suchen wir deine Eltern.“
Ich ging die Treppe hinunter, hob meinen Koffer aus und stieg wieder hoch. Oben angekommen war der Junge verschwunden. Ich schaute den Flur auf und ab, aber er war nicht mehr zu sehen. Ich dachte erst, dass er in eines der Zimmer gegangen ist, aber ich hörte keine der Türen öffnen oder schließen.
„Seltsam.“, sagte ich und suchte Zimmer 11.
Als ich es gefunden habe, ging ich sofort hinein, zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Ich schlief auch sofort ein.

Zwei Stunden später wurde ich geweckt, als jemand an meine Tür klopfte. Ich stieg im Halbschlaf aus dem Bett, ging zur Tür und fragte „Wer ist da?“
Keiner Antwortete, stattdessen klopfte es erneut. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und schaute hinaus. Es war wieder dieser Junge. Nur diesmal trug er anstatt seiner schwarzen Hose eine rote Schlafanzughose. Anzug und Krawatte trug er immer noch, allerdings wirkten sie nicht mehr so groß wie vorher.
„Woher.... Woher weißt du, dass ich dieses Zimmer habe?“, fragte ich erstaunt. Doch wieder gab er mir keine Antwort. Er schaute mich mit den gleichen Blick seiner roten Augen an.
Wieso waren seine Augen plötzlich rot?
Dann ging er den Flur entlang zur Treppe und stieg diese hinunter. Zumindest dachte ich dies. Ich sah in dort einbiegen, aber hörte seine Schritte nicht. Ich ging hinterher und dann war er plötzlich verschwunden.
Ich blieb mehrere Sekunden lang wie angewurzelt oben sn der Treppe stehen. Ich hatte Angst.
„Was passiert hier?“, flüsterte ich. „Bin ich verrückt?“
Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür ab und legte mich ins Bett.
„Das liegt am Stess. Es ist alles in Ordnung. Ruh dich aus!“, sagte ich zu mir selbst. Doch es half nicht. Ich konnte nicht einschlafen.
Nach einer Stunde wenden und drehen musste ich kurz ins Bad gehen. Doch die Tür war abgeschlossen.
Ich machte das Licht an, nahm den Zimmerschlüssel und wollte mit ihm die Tür aufschließen, doch sie hatte von außen kein Schloss. Ich drückte noch einmal die Klinke und
dann ging die Tür auf einmal auf. Innen brannte das Licht, der Raum hatte keine Fenster, aber eine Lüftung, die aber dem Geruch nach schon lange defekt war.
Ich verrichtete schnell mein Geschäft und ging dann wieder ins Bett. Diesmal konnte ich etwas schneller einschlafen, doch die Ruhe hielt nicht lange an. Plötzlich zerbrach das Fenster des Zimmers mit einem lauten Scheppern, als hätte jemand einen Ziegelstein dagegen geworfen. Ich wachte schlagartig auf und setzte mich auf. Kalter Wind wehte mir um die Ohren und ich hörte meinen Puls rasen.
Ich machte das Licht an und sah, dass das gesamte Glas aus dem Rahmen gebrochen ist. Allerdings fanden sich im Zimmer keine Scherben. Es wurde von innen zerstört.
Ich blickte mich um. Niemand war da, aber ich hatte Angst bekommen. Ich stieg aus dem Bett, zog mir eine Hose und eine Jacke drüber, schnappte meinen Koffer und rannte aus dem Zimmer. Auf der Treppe nach unten musste ich abrupt stehen bleiben. Der Junge stand da. Er war deutlich größer als vorher, so dass ihm der Anzug perfekt passte. Er hatte glühend rote Augen und schaute mich finster an. Panik ergriff mich. Ich stieß ihn die Treppe hinunter und rannte über seinen leblosen Körper hinweg zur Tür, die überraschenderweise offen stand. Draußen auf dem Parkplatz stand kein Auto mehr. Bis auf die Laternen und dem Dorf am Horizont war nichts menschliches zu erkennen. Dann hörte ich plötzlich laute Schritte aus dem Hotel kommen. Ich rannte auf das abgeerntete Maisfeld zu, an dessen anderen Ende das Dorf war. Kurz vor dem Feld stolperte ich und flog auf den Boden. Ich wollte aufstehen, aber eine riesige, unsichtbare Hand drückte mich zu Boden. Ich schrie, zappelte und schlug um mich, aber ich erwischte nichts. Wie ein Magnet war ich an den Boden gepresst. Hinter mir brüllte eine laute, tiefe Stimme die Worte „HENDRIK SCHWEINEHIRN“. Ich spürte einen starken Schmerz in meinem Nacken, dann war alles schwarz.

Benny

Um kurz vor 10 war ich im Hotel. Mehrere Autos standen vor dem Gebäude, mehr als Abend zuvor. Ich ging hinein und hörte aus dem Restaurant mehrere Stimmen. Scheinbar kamen viele Menschen zum Frühstücken hierher.
Die Frau an der Rezeption begrüßte mich freundlich, und ich ging ins Restaurant um Hendrik zu suchen. Aber er war nicht beim Frühstücken. Ich ging zurück zur Rezeption.
„Können Sie mir sagen, welches Zimmer Hendrik Kelleser hat?“
„Hendrik Kelleser?“
„Ja.“
Sie schaute kurz ins Gästebuch.
„Tut mir leid, hier wohnt kein Hendrik Kellserer.“
„Aber er hat gestern Abend hier eingecheckt.“
„Kann nicht sein, wir sind seit zwei Tagen ausgebucht.“
Ich schaute sie verwirrt an.
„Sind Sie sicher?“
„Absolut. Wenn hier gestern jemand eingecheckt hätte, wüsste ich das. Das Hotel gehört mir ja schließlich.“
Ich war verwirrt.
„Aber ich habe extra ein Zimmer für ihn gebucht. Vorgestern.“
„Dann müssen Sie sich wohl verwählt haben. Hier wurde kein Zimmer gebucht. Selbst wenn, hätten wir Ihnen keines geben können. Wir sind voll.“
Ich schaute sie lange irritiert an.
„Na gut. Danke.“ Ich ging hinaus. Wo war Hendrik? Er muss hier sein, ich hab ihn gestern hier abgeliefert. Wo hat er übernachtet?

Sarah

„Guten Morgen, Schatz!“
„Guten Morgen!“
Antonio kam aus dem Schlafzimmer und gab mir einen Kuss. Er setzte sich an den gedeckten Frühstückstisch und ich servierte ihn einen Teller Rührei mit Speck.
„Danke Liebling. Wann wollte Hendrik nochmal wiederkommen?
„In zwei Tagen.“, antwortete ich.
„Dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit für uns!“, sagte er und lächelte mich an. Ich lächelte zurück.
„Sagst du ihm dann das mit uns, oder wartest du bis er weg ist? Denn den Abschiedswein nächste Woche würde ich doch gerne noch ausgegeben bekommen.“ Er grinste.
„Keine Sorge, er wird nichts von uns erfahren. Hat er in den letzten 6 Monaten doch auch nicht, oder?“
„Du hast recht. Danke. Ich geh mal kurz in den Keller, den Sekt hinaufholen. Dann stoßen wir an.“
„So früh? Aber von mir aus.“
Er stieg die Treppen hinunter und ich setzte mich an den Tisch um mir ein Brötchen zu schmieren. Dann hörte ich ihn plötzlich einen Schrei ausstoßen.
Ich rannte hinunter in den Keller. „Schatz, was ist passiert?“ Unten angekommen stieß auch ich einen Schrei aus.
Auf dem kalten Kellerboden lag Hendrik. Tot, mit abgetrenntem Kopf in einer Blutlache.
Antonio und ich schauten ihn entsetzt an. Was ist passiert und wie kommt er hierher?

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Der Nebelwald

Genre: Horror


„24. Juli 2011, Tag 0:

Endlich ist es so weit: Morgen gehen wir in den Wald. Wie du weißt, freue ich mich schon seit WOCHEN auf dieses Experiment: Eine Woche mit meinem besten Kumpel Niklas im Wald. Ohne Wasser, ohne Nahrung, auf den Spuren von Bear Grylls. Wir haben jede Folge „Abenteuer Survival“ gesehen, haben ein sechsmonatiges Überlebenstraining abgeschossen und bringen den ultimativen Willen mit. Eigentlich kann nichts schief gehen. Für den absoluten Notfall haben wir ein Handy dabei, aber wir werden es wirklich nur benutzen, wenn einer von uns im Sterben liegt. Ansonsten haben wir das Gleiche dabei wie unser Vorbild Bear Grylls: Ein Feuerstein, eine Flasche und ein Messer. Natürlich ein Bear Grylls Messer. Natürlich auch dich, mein Tagebuch, damit wir später nochmal alles nachlesen können.
Unser Ziel ist ein großes Waldgebiet in Lettland. Unser Flug nach Riga geht morgen früh um Halb Neun. Da wir von Frankfurt aus fliegen, muss ich schon um Halb 4 Aufstehen. Carsten holt mich um Halb 5 ab. Um etwa 12 Uhr kommen wir in Riga an, so dass wir etwa 3 Stunden später den Wald erreichen. Niko, ein Cousin von mir lebt in Riga, er wird uns bei unserer Reise durch die Natur begleiten und uns vom Flughafen abholen und zum Startpunkt nach Kolka fahren.
Wenn die Woche vorbei ist, wollen wir in der Stadt Slitere angekommen sein. Das ist etwa 20 Kilometer Luftlinie entfernt.
So, nun wird es Zeit zum Schlafen. Ich möchte ja morgen ausgeschlafen sein. Gute Nacht.
25. Juli 2011, Tag 1:

Ich hasse frühes Aufstehen. Der Morgen kam für mich heute viel zu früh. Zum Glück gibt es Kaffee.
Mein Rucksack war eigentlich schon mit allem was wir mitnehmen wollten gepackt, aber ich hab mich dazu entschieden noch eine Decke einzupacken, da es in Lettland auch im Sommer kühl werden kann. Natürlich habe ich auch Niklas und Niko gesimst, dass sie sich Decken mitnehmen können. Das war das letzte mal für einen längeren Zeitraum, dass ich mein Handy benutzt habe.
Man sollte eigentlich meinen, dass die A 45 morgens um halb 7 frei ist. Stattdessen standen wir fast eine halbe Stunde im Stau, aber zum Glück sind wir früh genug losgefahren, so dass wir den Flug nicht verpasst haben.
Wir sind pünktlich in Riga gelandet und wurden freundlich von Niko und seiner Frau empfangen. Sie hat das Auto zurückgefahren, als wir in Kolka angekommen sind und sie wird uns am Sonntag in Slitere abholen.

Jetzt sind wir schon fast sechs  Stunden im Wald. Direkt zu Beginn sind wir an einem kleinen Bach vorbei gekommen, wo wir erstmal unsere Wasserflaschen gefüllt haben. Danach ist nichts besonderes mehr passiert. Aber es ist einfach etwas unbeschreibliches in der freien Natur zu sein. Jetzt sitzen in einem selbst gebautem Unterstand, beziehungsweise jeder in seinem eigenen. Niko hat im Wald einige Beeren gesammelt, als Niklas und ich die Unterstände gebaut haben, damit wir ein Abendessen haben. Glücklicherweise wachsen hier sehr viele Blaubeeren und auch Brombeeren. So werden nicht verhungern. Aber die Sonne geht gleich unter, so dass es langsam an der Zeit ist ein Feuer zu machen. Hier in den Wäldern gibt es neben Beeren auch Bären, die sich mit Beeren nicht zufrieden geben. Aber zum Glück werden wilde Tiere durch Feuer verscheucht. Daher beende ich meinen heutigen Eintrag. Feuer ist wichtiger.


26. Juli 2011, Tag 2:

Die letzte Nacht war sehr unbequem. Zwar hatten wir es warm und es regnete nicht, aber der Boden war sehr hart. Etwa zur Hälfte der Nacht habe ich meine Jacke ausgezogen und sie als Unterlage genutzt. Dadurch war es zwar kälter, aber das Feuer und die Decke haben immer noch ausreichend Wärme gespendet. Außerdem hätte ich jetzt wahrscheinlich wahnsinnige Rückenschmerzen wenn ich das nicht gemacht hätte. Da kann man eine dreckige Jacke schon mal verkraften.
Aber das Schlimmste in der Nacht waren die Krabbeltiere und die Geräusche von draußen.
Immer wieder wurde ich wach, weil mir entweder eine Spinne in den Mund krabbeln wollte, oder weil ein Wildschwein im Gebüsch geraschelt hat. Ich war sehr froh, als es endlich morgen wurde. Schon bei den ersten Sonnenstrahlen bin ich raus gegangen und habe uns ein Frühstück gesucht. Dabei hatte ich Glück: Neben Beeren und Löwenzahn fürs Frühstück habe ich auch ein Wildschwein gefunden, welches von einem Bären erlegt wurde. Das Fleisch war noch warm, also muss es in der Nacht passiert sein. Ich schnitt ein ordentliches Stück von der Keule ab und wickelte es in Farnkraut. Das hat uns heute ein sehr gutes Abendessen beschert. Dies war nach dem langen Marsch heute auch dringend nötig. Wir haben zwar einen Kompass dabei, aber im Wald kommt man trotzdem schnell vom Weg ab, da immer ein Baum den direkten Weg blockiert. So sind wir sicherlich wesentlich mehr gelaufen als wir eigentlich mussten. In dem Teil vom Wald wo wir uns gerade befinden kommt man sowieso nur sehr langsam voran, da das Unterholz hier sehr dicht ist. Niko und ich haben uns auch schon Zecken eingefangen, aber wir konnten sie vorhin mit einem kleinen Zweig entfernen.
Unsere Stimmung ist aber trotz der Strapazen sehr gut. Wir sind glücklich in der Natur zu sein. Das zivilisierte Leben mit Fernsehen und Internet vermisse ich kein Stück. Das einzige was ich vermisse ist eine warme Dusche. Das Wasser in den Bächen erfrischt zwar schön wenn man es trinkt, aber zum Waschen und Duschen ist es doch ein wenig zu kalt.
So, jetzt bin ich müde. Das Wildschwein in meinem Magen möchte schlafen. Also, gute Nacht und bis morgen.


27. Juli 2011, Tag 3:

Man sollte meinen, man gewöhnt sich an die Geräusche der Natur, aber so ist es scheinbar nicht. Die letzte Nacht habe ich noch weniger geschlafen als die Nacht davor. Zwar war es durch das Feuer angenehm warm und ich habe meine Jacke direkt als Unterlage benutzt, aber die Geräusche von draußen waren sehr störend. Mitten in der Nacht sind wir drei aufgestanden, weil ein lautes knarren uns geweckt hat. Niko und ich sind sogar rumgegangen, um die Quelle des Geräusches zu finden, da wir dachten, dass uns eventuell jemand beobachtet, aber wir haben nichts gefunden.  Nach dem Schreck ließ es sich noch schlechter schlafen. Ich bin immer wieder wach geworden, weil ich das Gefühl hatte, dass etwas oder jemand vor meinem Unterstand steht und mich beobachtet. Aber kein mal habe ich jemanden gesehen.
Am morgen bin ich wieder früh raus, diesmal sogar vor Sonnenaufgang. Die anderen beiden waren auch schon wach, sind aber liegen geblieben, da sie müde waren.
Ich holte Wasser aus dem nahe gelegenen Bach und kochte mir einen Kiefernadeltee in einer Blechdose, die wir am Tag vorher gefunden hatten. So ein Tee soll gut für die nerven sein, und tatsächlich fühlte ich mich nach dem Tee viel besser. Auch Niklas und Niko konnten damit ihre Müdigkeit ein wenig besiegen. Am besten wäre ja noch ein schönes Omelett zum Frühstück gewesen, aber darauf verzichten wir ja durch dieses Experiment freiwillig.
Heute mittag war es deutlich kälter als gestern und der Himmel war bewölkt. Wir befürchten, dass es heute Nacht regnet. Das würde die erste Prüfung für unsere selbst gebauten Blätter- und Dreckdächer werden.
Die Stimmung war heute deutlich gedämpfter als gestern, was wohl am Wetter und der Müdigkeit lag. Wir kamen heute wieder nur schlecht voran. Das Unterholz wird immer dichter. Es war schon schwer dieses unbewachsene Stück hierzu finden, um die Unterstände zu bauen.
Zecken hatten wir uns heute keine eingefangen, aber Niko hat sich einen tiefen Kratzer an einer Brombeerranke geholt. Ich hoffe die Wunde entzündet sich nicht, das wäre das Ende des Experiments. Wir haben ihm vorsorglich
Zum Abendessen gab es vorhin leider wieder nur Beeren. Wirklich satt gemacht haben die nicht, aber was anderes habe ich nicht erwartet. Auf die Nacht freue ich mich nicht. Es ist kälter, ich hab Hunger und wahrscheinlich gibt es wieder diese Geräusche. Ich habe sicherheitshalber mein Messer aus dem Rucksack geholt und neben meine Schlafstätte gelegt. Wer weiß was passieren wird.

28. Juli 2011, Tag 4:

Die Nacht war schrecklich. Die ersten 3-4 Stunden habe ich zwar durchgeschlafen, aber dann kamen wieder diese Geräusche. Es hörte sich so an, als würde ein großes Tier um unser Lager herum schleichen. Ich hatte Angst, ich umklammerte das Messer mit der rechten Hand, traute mich aber nicht aufzusehen und zu gucken, was draußen vor sich geht. An Schlaf war ab dem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Ich war unheimlich froh, als ich draußen die ersten Vögel singen hörte. Ich bin sofort aufgestanden und wollte die anderen Wecken, aber das war nicht nötig, sie lagen auch die ganze Nacht wach. Wir haben uns überlegt ob wir das Experiment nicht abbrechen sollen. Wir wussten ja nicht was die Geräusche verursachte. Es hätte ein Bär sein können, der uns verfolgt oder etwas schlimmeres. Es gab in der Vergangenheit in Osteuropa immer wieder vereinzelte Sichtungen von Affenmenschen. Die letzte vor zwei Jahren in der polnischen Tatra. Ob uns hier auch ein Affenmensch verfolgt? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass wir verfolgt werden. Am Tag hörten wir hinter uns immer wieder dieses Rascheln. Einmal sogar etwas, was sich anhörte wie ein Nieser. Aber wir konnten nichts sehen. Über Nacht ist dichter Nebel aufgezogen. Nach zwei Stunden beschlossen wir dieses Experiment abzubrechen und Nikos Frau anzurufen, damit sie das Handy ortet und uns abholt, doch wie das Schicksal es wollte war der Akku des Handys leer. Wir müssen also das hier beenden und Slitere erreichen. Doch das Unterholz wurde nicht lichter, wir kamen weiterhin nur schlecht voran. Zur Mittagszeit kamen wir an eine Lichtung. Da es durch den Nebel recht dunkel war, beschlossen wir ein wenig zu schlafen, um uns auszuruhen. Wir bauten aus großen Ästen einen Zaun um unser Lager und entzündeten ein Feuer um uns zu schützen. Wir schliefen auch schnell ein.
Jetzt im Nachhinein hat sich das als großer Fehler rausgestellt. Während wir schliefen hat jemand den Kompass gestohlen. Niklas legte ihn vor dem Mittagsschlaf neben seinen Schlafplatz. Als er aufwachte war er weg. Aber die Barriere, die wir um das Lager gebaut haben, wurde nicht durchbrochen. Alles lag so da wie wir es aufgebaut haben.
Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, dass jemand hier ein Spiel mit uns spielt. Wir sind alle verängstigt und wollen nach Hause. Im Moment ist es kurz nach Sonnenuntergang. Wir sitzen immer noch auf der Lichtung. Wir haben uns nicht getraut weiter zu gehen. Bei dem Nebel würden wir uns nur noch mehr verlaufen. Wir hoffen, dass dieses etwas uns in der Nacht in Ruhe lässt. Wir haben uns einen großen Unterstand gebaut, in dem wir drei zusammen schlafen können. Das schützt uns im schlimmsten Fall etwas. Hoffentlich hat sich der Nebel morgen aufgelöst. Dann können wir uns anhand der Sonne orientieren.
Jetzt kommt aber erst mal eine weitere Horrornacht.


29. Juli 2011, Tag 5:

Der Tag war schrecklich. In der Nacht hat es geregnet, unser Feuer ist ausgegangen und wir wurden Nass. Es war stockfinster. Und wieder dieses etwas was um das Lager geschlichen ist. Wir hatten alle unsere Messer in der Hand.
Mitten in der Nacht stand plötzlich etwas genau vor unserem Unterstand. Es schnaufte. Wir lagen wie erstarrt da. Es war einfach schrecklich. Wir dachten das Ding würde uns jeden Augenblick töten. Aber nach einigen Minuten ging es wieder. Wir haben danach kein Auge zu gemacht. Es blieb weiterhin in der Nähe unseres Lagers und machte die Geräusche.
Bei Sonnenaufgang sind wir sofort aufgestanden, haben die wichtigsten Sachen gepackt und sind weitergegangen. Der Nebel war immer noch da. Wir wussten nicht, wo wir hin sollten. Wir liefen einfach in eine Richtung und hofften irgendwo hin zu kommen. Aber der Wald schien unendlich groß zu sein. Wir kamen nirgends hin. Nur Bäume. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Wir liefen immer noch. Die Geräusche verfolgten uns zwar nicht mehr aber wir wussten, dass wir noch nicht in Sicherheit sind.
Irgendwann gegen Mittag, wir hatten noch nichts gegessen, kamen wir an den gleichen Bach, an dem wir am zweiten Tag unser Wasser entnommen hatten. Wir entschieden uns eine Pause zu machen und Niko ging allein in den Wald um Beeren zu suchen.
Aber er kam nicht wieder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir einen lauten Schrei aus dem Nebel hallen. Er stammte von Niko. Sofort liefen Niklas und ich in die Richtung, aus der der Schrei kam. Ich weiß nicht, wie lange wir gelaufen sind. Am Ende unseres Wegen fanden wir ihn am Fuße einer Birke liegen. Tot.
Irgendetwas hatte ihn angefallen. Sein Bauch war aufgeschlitzt und seine Gedärme hingen raus. Sein rechter Arm war fast vollständig abgetrennt. Überall war Blut.
Es war ein schrecklicher Anblick.
Dann hörten wir im Nebel hinter der Birke ein Schnauben. Niklas und ich rannten um unser Leben. Wir waren so geschockt und panisch, dass wir unsere Rucksäcke am Bach liegen ließen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir an ein altes Lager von uns. Dort sitzen wir auch jetzt noch. Wir sind fertig, haben kaum geredet. Der Schock sitzt tief.
Wieso haben wir das Experiment hier gemacht?
Ich wünschte dies alles wäre nie geschehen. Dann würde Niko noch leben.
Und jetzt kommt die nächste Nacht. Hoffentlich lässt uns das Wesen in Ruhe.


30 Juli 2011, Tag 6:

Die Nacht verlief ruhig. Keine Geräusche, kein Etwas. Aber das Schlafen fiel trotzdem schwer. Ich musste dauernd an Niko denken. Es war meine Schuld, dass er gestorben ist. Ich habe ihn dazu überredet, mit uns in den Wald zu gehen. Was soll ich seiner Frau erzählen, wenn ich sie sehe.
Wenn ich sie sehe! Dazu müssen wir erst mal lebend hier raus kommen. Heute Haben wir keinen Weg aus den Wald gefunden. Es war immer noch neblig. Aber wenigstens wurden wir nicht verfolgt.
Wir gingen aber kein Risiko ein und hielten uns nicht lange an einem Ort auf. Nur wenn wir kurz mal ins Gebüsch verschwinden mussten blieben wir stehen. Essen war unwichtig. Wenn wir an Bächen vorbei kamen füllten wir unsere Flaschen. Sie, der Feuerstein und die Messer waren das einzige was wir noch hatten. Und natürlich dieses Buch hier, was ich immer in meiner Jackentasche habe.
Als es dunkel wurde machten wir ein Feuer an einem Bachbett. Es ging nur schwer an, da alles feucht war, aber jetzt brennt es. Im Bach haben wir uns eine Forelle gefangen, die erste Mahlzeit seit mehr als 24 Stunden.
Auch heute haben wir kaum miteinander geredet. Nur das nötigste. Erst vorhin nach dem Essen unterhielten wir uns über die Situation. Was wir morgen machen. Ob wir gesucht werden würden, wenn wir nicht in Slitere ankommen würden. Ob wir das hier überleben.
Wir wussten keine Antworten auf die Fragen. Wir können nur hoffen, dass das Etwas sich an Niko satt gegessen hat und uns in Ruhe lässt. Wenn nicht, können wir nur hoffen, dass wir weit genug gegangen sind, so dass es unsere Spuren nicht findet und uns nicht verfolgen kann.
Ich habe trotzdem Angst vor der Nacht. Wir behalten beide  unsere Messer bei uns, wenn wir schlafen gehen. Ob das reicht, kann keiner sagen. Wir können nur beten, dass alles gut wird.


31. Juli 2011, Tag 7:

Ich bin allein! Über Nacht wurden wir angegriffen. Das Monster ist zurückgekommen. Es hat sich Niklas geholt. Ich wollte es aufhalten, aber es hat mich gegen einen Baum geschleudert und ich wurde bewusstlos.
Das Monster war gut drei Meter groß. Es hat riesige Krallen und hat dichtes Fell. In seinem Maul konnte ich lange, spitz Zähne erkennen. Mehr weiß ich nicht.
Es kam in der Nacht, als wir schliefen und schlich in Niklas' Unterstand. Es tötete ihn, indem es ihm die Krallen in der Körper schlug. Er hat nur noch kurz geschrien. Ich bin wach geworden und habe gesehen, wie es ihn weggeschleppt hat. Ich bin hinterher, aber es hat mich, wir bereits erwähnt, KO gehauen.
Als ich wach wurde war es morgen. Der Nebel war immer noch da.
Auf dem Boden war die Blutspur zu erkennen, wo er weggezogen wurde.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte schreckliche Angst. Es hat beide getötet und wenn nicht ein Wunder geschieht, bin ich der nächste.
Ich ging einfach drauf los. Leider kam ich nach einem Stundenlangen Marsch in dem Lager an, dass wir mit einer Barrikade aus Ästen geschützt hatten. Dort hatte das Monster uns den Kompass geklaut.
Ich weiß, hier war es schon mal. Hier wird es mich wieder finden. Aber was soll ich machen. Es ist dunkel, jetzt kann ich nicht weiter.
Ich kann nur hoffen, dass ich morgen noch lebe.“
„Wo sagten sie, haben sie dieses Buch gefunden?“, fragte der Polizist.
„Etwa 200 Meter von der Hauptstraße entfernt.“, antwortete der Förster“. Dort, wo mal das Lager der armen Männer war. Es liegen nur noch verstreut Äste und Blätter. Neben dem Buch war eine Blutlache.“
„Schrecklich, was da passiert ist. Wussten sie, dass so etwas hier durch die Wälder streift?“
„Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber das erklärt, warum es in den letzten Monaten so viele tote Bären gab. Ich dachte erst, dass sie sich gegenseitig umbringen, aber jetzt weiß ich es besser.“
„Wir müssen versuchen das Biest zu töten. Nicht, dass es noch mehr Opfer gibt.
Aber eine Sache an dem Buch ist seltsam: Der Typ hat ja einen Nebel erwähnt, aber laut den meteorologischen Aufzeichnungen dürfte es in dem Zeitraum, der in dem Buch angegeben ist, keinen Nebel gegeben haben. Nur Sonne.“

Montag, 24. September 2012

Bis zur Endstation

Titel: Bis zur Endstation
Genre: Horror
Beschreibung: Dies ist die Geschichte eines seltsamen Ereignisses, für das bis heute keine Erklärung gefunden wurde. Ich selbst habe keine Idee was es gewesen sein könnte. Ich weiß nur, dass dies der schrecklichste Abend meines Lebens war.

Es war ein dunkler Novemberabend in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Der Himmel war bewölkt und es nieselte leicht, weswegen ich einen Regenschirm bei mir trug. Ich ging zur Bushaltestelle, unser Dorf hatte nur eine. Ich wollte nach Oldenburg fahren um meine Eltern zu besuchen. Meine Mutter hatte letzte Woche Geburtstag gehabt, aber ich hatte keine Zeit vorbeizukommen und ihr zu gratulieren. Das Studium hat viel Zeit in Anspruch genommen.
Wäre ich damals in Oldenburg wohnen geblieben, hätte ich wohl die Zeit dazu gehabt, weil wir ziemlich nahe an der Uni gewohnt haben. Aber ich entschloss mich mit meiner Partnerin Sarah aufs Land zu ziehen, damit wir dort unsere Ruhe hatten. Im Lärm einer Großstadt lässt es sich nicht so leicht lernen. Außerdem ist die Luft hier draußen wesentlich besser, auch wenn der süße Duft nach Rinderfäkalien einen schon mal den Appetit vertreiben kann.
So kam es, dass ich an jedem Tag, an dem ich Vorlesungen habe, mit dem Bus nach Oldenburg und zurück fahren muss. Die Strecke kannte ich mittlerweile auswendig. Um 18.23 Uhr kommt der Bus, den ich diesmal nehmen musste, so dass ich um 19.04 Uhr an der Uni wäre. 7 Minuten früher musste ich aber aussteigen, da ich ja zu meinen Eltern wollte.
Wenn ich morgens mit dem Bus fahre, ist er meistens ziemlich leer. Selten sitzen mehr als 15 Fahrgäste im Bus, weshalb ich davon ausgegangen bin, dass er an dem Abend auch nur wenige Fahrgäste befördern wird.
Ich kam um 18.18 Uhr an der Haltestelle an. Ich bin immer zu früh dran, denn ich hasse es zu spät zu kommen, also wollte ich kein Risiko eingehen. An diesem Tag war ich froh über meine Überpünktlichkeit, da der Bus schon um 18.20 Uhr kam. Hätte ich den verpasst, hätte ich nicht fahren können, da es Sonntag war und dies der letzte Bus für den Tag war. So ist es auf dem Land nunmal.
Ich stieg ein und zeigte dem Fahrer meine Fahrkarte. Es war ein glatzköpfiger, muskulöser Mann mit einer Narbe quer durch sein Gesicht, der hinter dem Steuer saß. Seine Augen waren pechschwarz und hatten etwas unmenschliches an sich. Mit diesem Gesicht hätte er bei Halloween mehr Süßes bekommen als jeder andere. Und mit den Oberarmen hätte er mehr Saures geben können als jeder andere. Es schien ihm aber egal zu sein, ob ich eine Fahrkarte habe oder nicht. Er schaute mich mit einem unfreundlichen Gesicht an und forderte mich durch drehen seines Kopfes auf mich hinzusetzen.
Dieses Verhalten des Busfahrers hat mich überrascht. Weniger die Unfreundlichkeit. Busfahrer lächeln zu sehen ist in etwa so unwahrscheinlich wie ein Bundeskanzler der Piraten. Es war eher die Tatsache, dass es dem Busfahrer nicht im geringsten interessierte, ob ich für die Fahrt bezahle oder nicht. Normalerweise wird an jeder Ecke kontrolliert, ob man einen gültigen Fahrausweis hat. In jedem zweiten Bus sitzt ein Kontrolleur, der jeden, der schwarz fährt, rausschmeißt und zu einer Geldstrafe von 100 Euro verdonnert. Aber heute schien das anders zu sein.
Ich kümmerte mich nicht weiter darum und ging in den Innenraum des Busses. Tatsächlich war der Bus ziemlich leer. Nur vier Personen saßen darin. Auf der hintersten Bank zwei Jugendliche, vorne hinter dem Fahrer eine ältere Dame, und in der Mitte neben der Tür...
„Hallo Hendrik!“
„Ach, hallo Maike! Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet. Wo fährst du hin?“ Ich setzte mich neben sie.
„Zur Weser-Ems Halle. Dort ist heute Abend ein Basketball Länderspiel, für das ich Tickets habe. Und wohin verschlägt es dich?“
„Zu meinen Eltern, meine Mutter hatte letztens Geburtstag und jetzt soll ich zum Abendessen vorbeikommen.“
Maike war eine alte Schulfreundin von mir. Wir machten zusammen Abitur. Sie studiert auf der gleichen Uni wie ich, nur ich hab Mathematik und sie BWL, so dass wir uns selten sehen.
„Und wieso fährst du allein? Wieso fährt deine Freundin nicht mit?“
„Sie hat Nachtdienst, daher muss sie gleich zur Arbeit.“
„Stimmt ja, sie ist ja Polizistin. Muss auch komisch sein, wenn deine Freundin das Geld verdient und du nicht arbeitest, oder?“
„Ach, so schlimm ist es ja nicht. Sie weiß, dass ich durch mein Studium gute Chancen auf eine Anstellung als Lehrer habe. Dann gleicht sich das wieder aus. Außerdem arbeite ich ja noch nebenbei bei REWE. Arbeitest du auch nebenbei?“
„Ja. Seit mein Ex mit mir Schluss gemacht hat, arbeite ich am Wochenende als Kellnerin in einem Café in Oldenburg. Vielleicht willst du mal mit Sarah vorbei kommen. Wir sind berühmt für unsere Sahnetorte!“
„MAUL HALTEN!“
Eine donnernde Stimme hallte durch den Bus. Der Busfahrer hat angehalten und schrie uns von vorne an. Die ältere Dame vorne in der ersten Reihe zuckte vor Schreck zusammen und wäre beinahe vom Sitz gefallen.
„DIES IST EIN BUS UND KEINE KNEIPE! HIER WIRD NICHT GEREDET!“
„Was haben sie für Probleme?“, sagte ich. „Wir dürfen doch wohl reden wenn wir wollen, solange wir keinen belästigen.“
„Lassen sie die jungen Leute in Ruhe oder ich sorge dafür, dass sie gefeuert werden!“, mischte sich auch die ältere Dame ein. Sogar die beiden Jugendlichen ganz hinten, die bisher nur teilnahmslos aus dem Fenster starrten, schauten den Busfahrer verwundert an. „Jetzt fahren Sie weiter, ich muss zu meiner Jogagruppe.“
„Na gut!“, sagte der Busfahrer, „Sie werden schon sehen, was sie davon haben.“
Er setzte sich wieder an Steuer und fuhr weiter.
„Danke.“, sagte ich zur Frau.
„Gern geschehen. Der arme Mann da vorne hat wohl von seiner Mutter nicht oft genug eine Tracht Prügel bekommen, dann kann so etwas schon mal passieren.“
Wir fuhren zwar weiter, aber unsere muntere Konversation von vorhin war beendet. Wir verfielen jetzt ins Schweigen.
Maike starrte aus dem Fenster in den verregneten Abend und schwieg. Ich wollte wieder mit ihr ins Gespräch kommen, aber mir fiel nichts ein, womit ich es beginnen könnte. Während ich mir was überlegte, fielen mir einige Merkwürdigkeiten auf.
Das Erste: Seit wir eingestiegen sind, hat der Bus an keiner anderen Haltestelle gehalten. Es ist keiner eingestiegen und keiner ausgestiegen. Zudem wurden auch keine Ankündigungen der nächsten Haltestellen gemacht, wie es sonst immer gemacht wurde. Auch die Anzeige der nächsten Haltestelle über der Fahrerkabine funktionierte nicht.
Das Zweite: Der Bus war nicht wie die anderen Busse, die sonst diese Strecke fahren. Normalerweise sind es neue Hybridbusse mit drei Türen und einem Notausstieg an der Decke. Dieser Bus hier hatte keinen Notausstieg. Es war auch kein Hybridbus. Es war ein alter, der mit Diesel betrieben wurde.
Das Dritte: Wir fuhren eine völlig andere Strecke! Es war nicht die übliche in Richtung Oldenburg. Dann hätten wir schon längst durch unser Nachbardorf fahren müssen, aber wir fuhren durch einen Wald.
„Irgendwas stimmt hier nicht.“, flüsterte ich Maike zu.
„Was?“
„Sieh dir mal den alten Bus an, er ist ganz anders als die, die hier normalerweise fahren.“
„Vielleicht haben die einen anderen genommen, weil hier so wenig Leute mitfahren?“
Ich beachtete sie nicht. „Die Haltestellenanzeige funktioniert nicht. Es kommen keine Durchsagen.“
„Wie du schon sagtest, der Bus ist alt...“
Ich schaute mich genauer im Bus um. Jetzt erst fiel mir auf, dass gar keine Haltewunschtasten im Bus angebracht waren.
„Keine Stop-Knöpfe! Und wir fahren eine ganz andere Strecke!“, sagte ich diesmal lauter, so dass die anderen Fahrgäste es auch mitbekamen.
„Bist du sicher? Es ist dunkel draußen, vielleicht...“
Ich stand auf und ging zum Busfahrer.
„Wo sind wir?“, fragte ich.
Er ignorierte meine Frage, als ob er mich nicht wahrnehmen würde, und starrte auf die nur von den schwachen Busscheinwerfern beleuchtete Straße.
„Wo fahren sie uns hin?“
„Zur Endstation.“, sagte er mit einer kalten, gefühllosen Stimme, die perfekt zu seinen Augen passte.
„Lassen sie uns raus!“, forderte ich ihn auf.
Er fing aber nur an zu grinsen und sagte: „Keiner verlässt den Bus vorzeitig.“
Mich ergriff Panik. Ich drehte mich zu den anderen Fahrgästen um. Sie starrten mich angsterfüllt an. Sie haben auch gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt.
„WIR MÜSSEN RAUS!“, schrie ich.
Der eine Junge in der hinteren Reihe reagierte sofort und griff zum Nothammer. Er schlug mit voller Wucht gegen die Scheibe, aber diese blieb unversehrt. Stattdessen fing der Junge an, am ganzen Körper heftig zu zittern, stürzte auf den Boden und blieb dort regungslos mit geschlossenen Augen liegen.
„LUKAS!“, schrie sein Begleiter.
Auch Maike und die alte Frau schrien auf.
Ich drehte mich wieder zum Busfahrer.
„Was haben sie gemacht?“
Er grinste immer noch.
„Keiner verlässt den Bus vorzeitig.“ wiederholte er langsam und in einem ruhigen aber befehlenden Ton. „Alle fahren bis zur Endstation.“
Wäre sie Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich wieder auf meinen Platz gesetzt, so dominant war seine Stimme. Aber ich ergriff den Feuerlöscher, der neben der Eingangstür hing und schlug auf seinen Kopf ein.
Der erhoffte Schmerzensschrei und die darauf folgende Ohnmacht des Fahrers blieben aus. Stattdessen drehte er seinen Kopf in meine Richtung und sah mich mit dem gleichen genervten Blick an wie beim Einsteigen. Er stand auf und ich erschrak. Er war mindestens 2.30 Meter groß. Er öffnete die Tür der Fahrerkabine und trat hinaus. Da mir nichts besseres einfiel und ich keine Waffen bei mir hatte, bin ich zurück gegangen und habe mich auf meinen Platz gesetzt.
Der Fahrer ging den Mittelgang entlang, während der Bus von alleine weiterfuhr. Die alte Dame, an der er zuerst vorbeikam, fasste sich vor Angst an die Brust, als würde sie einen Infarkt bekommen und schrie kurz auf. Der Mann lies sich aber nicht beirren und ging weiter. Währenddessen fixierte er mit seinen Kohleaugen Maike. Als er kurz vor unserer Sitzreihe war, fiel mir der Regenschirm ein, der neben mir auf dem Boden lag. Wenn er vor uns stehen bleibt, würde ich ihn den in den Bauch rammen. Über die Wirkung des Angriffs wollte ich nicht nachdenken und hoffte einfach das Beste. Aber er blieb nicht stehen sondern ging weiter nach hinten. Genau auf Lukas, den Jungen, der bewusstlos am Boden lag, zu. Sein Freund kniete neben ihn. Das Entsetzen lag in seinem Gesicht.
Der Fahrer blieb vor den Beiden stehen und hob Lukas hoch und legte ihn über seine Schulter. Danach ging er zurück nach vorne, während der andere Junge auf dem Boden zurück blieb.
Vor der hinteren Tür blieb der Busfahrer stehen. Genau in dem Moment blieb auch der Bus stehen. Ich schaute aus dem Fenster. Wir waren irgendwie von der Straße abgekommen und standen mitten im Wald, von Bäumen umzingelt. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war immer noch bewölkt. Mit Ausnahme der Busscheinwerfer und dem Licht der Lampen im Bus, das durch die Fenster nach draußen schien und die Silhouetten der Bäume zeichnete, war es stockfinster.
Die Tür öffnete sich. Der Fahrer sagte mit der gleichen, ruhigen Stimme: „Sie kommen euch gleich holen. Es dauert nicht lange, dann ist alles vorbei.“                            
Er trat aus dem Bus, mit Lukas auf der Schulter, ging in den Wald hinein, die Tür schloss sich hinter ihm, und sie verschwanden in der Dunkelheit. Als sie nicht mehr zu sehen waren, erloschen auch alle Lichter im und am Bus.
Wir waren eingesperrt, konnten nichts sehen und wussten nicht was passiert. Ich hatte richtig Panik. Ich wollte einfach nur schreien, aber der Schock hat scheinbar meine Stimme gelähmt. Ich hörte Maike neben mir schwer atmen. Auch sie hatte Angst. In der vordersten Reihe fing die ältere Dame an zu sprechen: „Und was machen wir jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“, sagte ich mehr schlecht als recht, während hinter mir plötzlich ein Licht an ging.
Es war der andere Junge. Er hatte eine Taschenlampe dabei.
„So können wir wenigstens sehen, was auf uns zu kommt.“, sagte er mit zittriger Stimme.
„Immerhin etwas.“, sagte ich. „Aber wie kommen wir hier raus?“
Ich stand auf und ging durch den Bus, während sich die ältere Dame zu Maike setzte, die offenbar einen Schock hatte und versuchte sie zu beruhigen.
Ich überlegte mir, wie wir raus kommen könnten. Ich blieb vor der Tür stehen. Unter der Tür fehlte ein Teil der Dichtung.
Ich ging zurück und holte den Regenschirm.
„Junge, wie heißt du?“
„Robin.“
„Robin, hilf mir die Tür aufzubrechen.“
Ich steckte die Spitze des Schirms in die Öffnung und bewegte sie entlang der Dichtung zwischen die Türen. Dann drückten wir gemeinsam gegen den Schirm. Wir konnten tatsächlich die Tür einen Spalt öffnen. Dieser war groß genug, dass wir durch gehen konnten.
Ich rief die alte Dame und Maike, dass sie durch die Tür gehen sollen. Danach ging Robin und zum Schluss Ich.
Als alle draußen waren, gingen wir auf die andere Seite des Busses und liefen in die dem Busfahrer entgegengesetzte Richtung. Robin und Ich mit der Taschenlampe voran und dahinter Maike und die ältere Dame. Sie war nicht mehr die Schnellste, daher kamen wir nur langsam voran.
Wir sprachen nicht. Wir hatten zu viel Angst, dass die, von denen der Fahrer gesprochen hat, uns hören könnten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber wahrscheinlich nicht länger als 20 Minuten war, erlosch das Licht der Taschenlampe.
Wir standen in einer mondlosen Nacht mitten im Wald, ohne Licht.
„Hat jemand ein Feuerzeug?“, fragte ich in die Runde, aber bekam nur ein leises und erschöpftes „Nein“, der alten Frau als Antwort.
Wir wussten nicht weiter und blieben einfach stehen. Panik ergriff mich wieder. Wie sollten wir da raus kommen?
Ich konnte nicht lange nachdenken. Hinter mir hörte ich plötzlich ein Rascheln, schnelle Schritte die auf uns zu kommen und zum Schluss der Todesschrei der Frau.
Meine Gedanken waren verflogen, Ich lief einfach los und die anderen beiden taten scheinbar das Gleiche, denn Ich konnte ihre Schritte hören, aber nach kurzer Zeit waren auch diese verstummt. Sie liefen in eine andere Richtung. Oder... hoffentlich nicht.
Ich konnte nicht sehen wohin Ich lief. Ich hatte die Wahl gegen einen Baum zu laufen oder von dem Ding getötet zu werden. Ich lief im Zick-Zack und zu meiner Überraschung stieß Ich mit keinem Baum direkt zusammen. Ich haute ein paar mal mit dem Arm gegen einen Stamm und stolperte einmal über einen Ast am Boden. Aber Ich lief weiter und kam, komplett außer Atem und erschöpft, am Rand eines Feldes an, an dessen Ende die Lichter eines Dorfes leuchteten. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und rannte über das Feld. Ich klingelte an der erst besten Tür, wurde eingelassen und war in Sicherheit.

Die Familie, die mich eingelassen hat, konnte meine Geschichte nicht glauben. Aber sie konnten mir auch nicht nicht glauben, da sie keine bessere Erklärung wussten, wieso ich sonst spät abends panisch aus einem Wald gerannt komme.
Die Polizei glaubte mir meine Geschichte hingegen. Die sagten, dies wäre nicht der erste Fall dieser Art. Allerdings war ich der Erste, der überlebt hat. Bisher hatte man nur Vermisstenmeldungen und Zeugenaussagen, dass diese Personen in einen Bus gestiegen sind.
Allerdings konnte der Bus, der Fahrer und „Sie“ nie gefunden werden. Ebenso wenig die Leichen von Lukas, Maike und der älteren Dame. Zumindest ging keiner davon aus, dass sie noch am Leben waren.
Robin wurde am nächsten Morgen von einem Wanderer mit gebrochenem Fuß in einem Bachbett liegend gefunden. Er war stark unterkühlt, stand unter Schock aber er hat überlebt.
Er wird diesen Abend immer im Gedächtnis haben. Genau wie ich.


Dienstag, 18. September 2012

Aber nicht wieder schwänzen, ja?

Titel: Aber nicht wieder schwänzen, ja?
Genre: Kurzgeschichte
Beschreibung: Ein Ereignis in der Berliner U-Bahn

„Aber nicht wieder schwänzen, ja?“
Sein gleichaltriger Freund steigt aus der U-Bahn und lässt den Jungen allein zurück.
Ich sitze in einer U-Bahn in Berlin Richtung Alexanderplatz. Der Junge, von dem ich spreche, ist etwa 12 Jahre alt. Er hat dunkle Haare und eine zierliche Statur. Seine schwere Tasche verrät, dass er gerade aus der Schule kommt. Sein Freund, der gerade ausgestiegen ist, winkt ihm noch zum Abschied zu. Der Junge hat ihn aber bereits aus seinem Fokus verloren. Er setzt sich auf einen freien Einzelplatz auf die rechte Seite und kramt in seiner Schultasche, holt „Prince of Denmark“ heraus, stellt die Tasche auf den Boden vor seinen Sitz und fängt an zu lesen.
Ich sitze zwei Reihen hinter ihm in der Bahn. Sie ist für die Verhältnisse eines Dienstag Nachmittags ziemlich leer. Die anwesenden Personen sind meist allein unterwegs, daher hat der Junge die Ruhe um Lesen.

Zwei Stationen später steigt eine Frau in den Zug. Sie setzt sich auf den Stuhl zwischen den Jungen und mich. Der Junge und niemand anderes nimmt Notiz davon, dass die Frau eingestiegen ist.
Sie ist etwa 40 Jahre alt, hat rote, leicht angegraute Haare. Als die Bahn sich wieder in Bewegung setzt, beugt sich die Frau nach vorne und schaut den Jungen über die Schulter.
„Was ließt du denn da, mein Junge?“, fragt die Frau.
Der Junge dreht seinen Kopf und erschrickt, als er den Kopf der Frau über seiner Schulter bemerkt.
„Ha- Hamlet.“, stottert er.
„Wirklich? So ein anspruchsvolles Buch in deinem Alter?“ Sie schaut in das Buch. „Und dann auch noch auf Englisch! Was machen denn die Lehrer mit euch, sag mal?“
Der Junge zuckt mit den Schultern. „Das ist ganz normal. Glaube ich.“
„Glaube ich nicht!“, widerspricht ihm die Frau, „Das ist nicht normal. Wenn du mein Sohn wärst, müsstest du das nicht lesen. Wie ist eigentlich dein Name?“
„Janis. Und wieso müssen Ihre Kinder das Buch nicht lesen?“
„Ich habe leider keine Kinder. Aber wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht auf die Schule schicken. Was man dort lernt, braucht man im wahren Leben sowieso nicht. Ich habe es auch ohne Schulabschluss zu einem sehr guten Leben geschafft. Oder wie siehst du das, Janis?“
Er klappt das Buch zu. „Einige Dinge sind wirklich nutzlos. Wozu muss man Punktspiegelung können?“
„Genau das meine ich!“ Die Stimme der Frau klingt fast schon euphorisch.
„Ja, aber leider sind meine Eltern nicht so cool wie Sie. Die wollen sogar, dass ich noch extra Unterricht nehme, weil meine Noten angeblich zu schlecht sind.“
„Wirklich? Dann haben deine Eltern dich aber nicht lieb.“
„Naja, so würde ich das nicht sagen.“
„Ich schon. Was hältst du davon, wenn Du bei mir wohnst. Ich würde dir dann zuhause alles beibringen, was du für das wahre Leben wissen musst. Keine Spiegelungen, kein Shakespeare! Ich muss an der nächsten Station raus, dann kannst du mitkommen, wir rufen deine Eltern an, damit sie sich keine Sorge machen. Wir können uns ja eine Pizza mitnehmen, damit wir beim Lernen was im Magen haben. Was meinst du?“
Der Junge schaut der Frau jetzt das erste Mal richtig ins Gesicht, so dass ich seines das erste Mal richtig sehen kann.
In seinem Blick liegt Verwunderung, aber auch Freude.
„Meinen sie das im Ernst? Ich bei Ihnen Wohnen, Pizza, keine Schule?“
„Natürlich. Ich habe ja selbst keine Kinder. Du kannst mich übrigens Hanne nennen.“
„Okay, Hanne, aber wir rufen meine Eltern an?“
„Natürlich. Ich werde ihnen alles erklären, dass du überfordert bist und diesen Müll sowieso nicht brauchst, dann werden sie einverstanden sein.“
Der Junge zögert und schaut die Frau weiter an, während die Bahn langsamer wird.
Als sie zum Stillstand kommt und sich die Türen öffnen, steht die Frau auf und hält ihm seine Hand hin.
„Und? Ja oder Nein?“
Der Junge nimmt ihre Hand, steht auf, und sie verlassen gemeinsam den Zug.
Als die Türen sich schließen hat keiner im Zug den Handschlag gesehen. Die einsame Schultasche fällt nicht auf.