Montag, 8. Juli 2013

Lötkolben

“Ich frage Sie ein letztes Mal:”, sage ich, “haben Sie den Mann ermordet?”
Dieses Spiel ging bereits seit Stunden. Immer wieder löcherten wir den Verdächtigen mit Fragen. Immer wieder hat er uns eiskalt ignoriert oder in einer Sprache beantwortet, die meine Kollegin und ich nicht beherrschten. Einen Dolmetscher konnten wir zu solch später Stunde nicht mehr erreichen, also mussten wir ihn weiter ausquetschen.
Der Mann ist etwa 40 Jahre alt und stammt seinem Aussehen zu Folge aus Indien. Er ist am frühen Morgen dabei beobachtet worden, wie er einen Mann brutal umgebracht hatte.

Es war etwa 3 Uhr am frühen Sonntag morgen als das Opfer, offenbar angetrunken, auf dem Weg nach Hause durch die Innenstadt von Recklinghausen. Eine Zeugin, eine Frau Mitte 20, lief in einigen Metern Distanz hinter ihm her. Sie war auf dem Rückweg von einer Geburtstagsfeier, hatte etwas getrunken und war mit den Gedanken woanders, daher sind die folgenden Beschreibungen unsicher und Lückenhaft.
Am Marktplatz blieb der Mann stehen, wartete einige Sekunden und drehte sich zur Seite um. Von dort kam eine Stimme, der Mann antwortete brüllend und lief in die Gasse aus der die Stimme kam, während die Zeugin in die andere Richtung abbog. Hinter sich hörte sie in den folgenden Minuten mehrfach Männerstimmen auf einer fremden Sprache rufen. Mal lauter, mal leiser. Mal näher, mal weiter entfernt. Die Quellen der Stimmen konnte die Zeugin nicht ausmachen.
Am Busbahnhof, am anderen Ende der Innenstadt, traf die Zeugin erneut auf das Opfer. Er war wieder allein unterwegs, saß stocksteif auf der Bank und blickte in die Nacht hinein. Über mehrere Minuten bewegte er sich keinen Zentimeter, selbst als es anfing zu regnen nicht.
Als unsere Zeugin in ihren Bus stieg, kam gerade ein anderer Mann zum Bussteig des Opfers, das nicht reagierte. Dieser Mann wurde später als Tatverdächtiger identifiziert.

Zehn Minuten danach wurden beide Männer zusammen von einem anderen Zeugen am Marktplatz beobachtet. Sie saßen auf dem Boden, redeten leide miteinander.
Als der zweite Zeuge den Platz verließ, hörte er hinter sich einen Schrei, den er aber keinem der beiden Männer zuordnete, sondern eine Frau. Er kehrte zurück, stellte fest, dass beide Männer verschwunden sind. Nirgends war eine Frau zu sehen.

Gegen 4 Uhr morgens beobachtete ein dritter Zeuge am Busbahnhof einen Streit zwischen dem Opfer und dem Tatverdächtigen. Mehrere weitere Passanten waren anwesend, ignorierten den Streit aber. Es soll nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen sein.

Um halb fünf kam es zum Mord auf dem Rathausplatz. Ein Passant, der sich zur Zeit des Verbrechens in der Nähe befand, hörte vom Rathausplatz seltsame Geräusche und Schreie. Er reagierte schnell und eilte zum Platz. Dabei kam ihn der Inder entgegengerannt, mit einem Messer in der Hand und nacktem Oberkörper.
Als der Zeuge in Sichtweite des Rathausplatzes kam, bemerkte er die Leiche des Mannes am Brunnen liegen. Seine Kehle war aufgeschnitten, der Oberkörper hatte mehrere tiefe Stichwunden und das linke Bein war zur Hälfte abgetrennt.

Nach einem Aufruf der Polizei Recklinghausen über soziale Netzwerke konnten die anderen Zeugen ermittelt werden. Am Abend wurde der Verdächtige am Marktplatz aufgefunden und zur Befragung ins Präsidium gebracht. Er war mit einer Frau unterwegs.

Nun ist es fast Mitternacht. Seit 5 Stunden stellen wir Fragen. Ohne Antwort. Der Mann will weder zugeben, dass er der Täter ist, noch dass er unschuldig ist.

“Was machen wir mit ihm?”, fragt meine Kollegin außerhalb des Verhörraumes.
“Wenn er nicht redet, nützt er uns nichts.”, sage ich. “Wir haben keine Beweise, dass er wirklich der Mörder ist. Die Zeugenaussagen belegen zwar, dass er mit dem Opfer unterwegs war, aber mehr nicht.”
“Was ist mit der Tatwaffe? Wurde diese bereits gefunden?”
“Ich habe vor einer Stunde telefoniert. Nein, die Suche in der Nähe des Tatorts hat nichts ergeben. Es gibt auch keine Spuren an der Leiche, die unseren Kumpel hier belasten würden.”
Kurzes Schweigen.
“Ich glaube, wir müssen ihn gehen lassen, bis wir den Wohnungsdurchsuchungsbeschluss haben.”, sage ich. Ich sah meiner Kollegin an, dass sie enttäuscht war.
“Gut.”, sagte sie. “Ich werde ihn herausführen.”
“Und ich werde nochmals telefonieren.”
Ich gehe zum Telefon, um mich nochmals wegen der Wohnungsdurchsuchung zu erkundigen, kann aber niemanden erreichen. Als ich auflege, höre ich vor dem Gebäude einen Schrei. Den Schrei meiner Kollegin.
Ich renne sofort raus.
Sie steht mit erschaudertem Gesicht am Treppenabsatz und starrt auf die Figur am Boden:
Der Verdächtige! Seine Augen und sein Mund sind weit aufgerissen. Seine zitternden Hände fahren an deinem Hals entlang. Genauer gesagt am Fremdkörper, der in seiner Kehle steckte. Erst nach Sekunden erkenne ich, dass es ein Lötkolben ist.
Bevor ich reagieren kann, erschlafften seine Hände und fallen zu Boden. Sein offener Mund füllt sich mit Blut und er starrt mit leeren Augen in den Nachthimmel.
Ich steige die Treppen herab, schaue mit Entsetzen auf den leblosen Körper zu meinen Füßen. Sekunden später höre ich neben mir ein Geräusch. Es ist der Körper meiner Kollegin, der zu Boden fällt, während ihr Kopf einen halben Meter zur Seite rollt.
Erst realisierte ich garnicht, was passiert ist. Dann stehe ich mit gezückter Waffe da, schaue mich auf der Straße um. Keine Menschen zu sehen, alle Fenster sind Dunkel, kein Auto. Ich blicke zur Seite und sehe, wie ein Hammer genau auf meinen Kopf zu fliegt.